Autor:innenpreis
Leonie Lorena Wyss - Blaupause
Blau ist weg. Verschwunden aus der Welt, aus der Wahrnehmung der Protagonistin. Dabei war blau eine so wichtige, eine warme Farbe im Leben der jungen Frau. Verloren gegangen ist nicht nur blau, verloren gegangen ist eine große Liebe an einen zu frühen Tod. Den Prozess der Trauer begleitet die Erinnerung ans Aufwachsen als Mädchen und Frau, als junge queere Person, zwischen dem Chor der pubertierenden Cousinen, dem Entdecken des eigenen Begehrens und der Begegnung mit der großen Liebe. Alles das erzählt Leonie Lorena Wyss in "Blaupause" sehr unterhaltsam, rhythmisch und sprachstark.
Leonie Lorena Wyss, 1997 geboren in Basel, studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Davor Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis in Hildesheim und Madrid. Als Autor:in und Dramaturg:in arbeitet sie in unterschiedlichen Kollektiven und ist in der politischen Bildungsarbeit tätig. Während des Studiums in Hildesheim war sie Mitherausgeber:in der BELLA triste und Teil des Writer’s Studios am Schauspiel Hannover. 2021 wurde sie zum Treffen junger Autor*innen am Schauspiel Leipzig eingeladen. 2022 war sie mit dem Stück Blaupause für den Hans-Gratzer-Preis am Schauspielhaus Wien nominiert und erhielt das Literar-Mechana Dramatiker:innen-Stipendium sowie das Startstipendium Literatur der Stadt Wien. Derzeit ist sie mit dem Stück Muttertier für den Retzhofer Dramapreis 2023 nominiert.
Autor:innen und Stücke
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Das Stückporträt: Blaupause – Leonie Lorena Wyss
Von Verena Großkreutz
Ein Wort mit poetischem Potenzial: Blaupause. Es kommt von "pausen": dem Nachzeichnen von Konturen, die unter transparentem Papier liegen. Eine alte Reproduktionstechnik, mit der einst Architekturbüros Bau- und Gebäudepläne kopierten. Auch Texte, die früher mit blauem Durchschreibepapier vervielfältigt wurden, wurden Blaupause genannt. Blau wird eben am ehesten mit der Handschrift in Verbindung gebracht. "Blaupause" ist ein derart schönes Wort, dass sie es unter die deutschen Redensarten geschafft hat. "Eine Blaupause sein" bedeutet ganz allgemein, dass etwas beispielhaft ist, als Vorbild oder Vorlage dienen kann.
Als Leonie Lorena Wyss (*1997) ihr Hörstück "Blaupause" taufte, spielte aber sicherlich auch die poetische Mehrdeutigkeit, die in diesem Wort schlummert, eine Rolle. Schließlich ist die Protagonistin zu Beginn blaublind geworden ("Blau ist weg"). Sie kann die Farbe ihres Schlüsselanhängers, eines Plastikdelfins, einfach nicht mehr wahrnehmen. Blau macht also Pause. Die Bedeutung "Vorbild" hat Wyss aber sicherlich auch impliziert: Ihre Protagonistin folgt schließlich ihren Gefühlen und nicht den Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellt. Denn "Blaupause" handelt von einer lesbischen Liebe.
"Blaupause" entstand 2022 im Rahmen von Wyss’ Teilnahme am Arbeitsstipendium "Hans Gratzer" des Schauspielhauses Wien. Das vorgegebene Themenfeld der Workshops war "Erinnerung"– genauer: Erinnerung "als vielschichtiges und lückenhaftes Sujet", als "Kaleidoskop", als "Traum, Lüge, verbogener Spiegel", "als Landkarte, deren Wege, Schluchten und Berge ein Kompass fürs Schreiben sein könnte", wobei sich die "Frage nach dem Tabu, nach dem Nicht-Erzählten, nach dem Verborgenen" stelle, so hieß es in der Ausschreibung des Stipendiums.
Das weibliche Erwachsenwerden
In "Blaupause" geht es um die Trauerarbeit einer jungen Frau, deren Partnerin mit 17 Jahren einer tückischen Krankheit erlegen ist ("am Ende hat man dir den Brei in durchsichtigen Schläuchen in den Körper gepumpt dein Gesicht ganz aufgedunsen vom Cortison"). Wehmütige, aufwühlende Erinnerungen an ihre große Liebe vermischen sich mit anderen Erinnerungen aus der Zeit weiblichen Erwachsenwerdens: Es geht um die Schwierigkeit eines selbstbestimmten Lebens und eines queeren Selbstverständnisses innerhalb einer von männlicher Gewalt geprägten, heteronormativ ausgerichteten Gesellschaft, die permanent Druck ausübt auf junge Frauen.
Dabei wechselt die Perspektive immer wieder zwischen dem "ich" der namenlosen Protagonistin (linksbündig notiert) und einem "Wir"-Kollektiv pubertierender, den heteronormativen Erwartungen sich anpassender Mädchen und Frauen (zentriert notiert: der Chor der 13 Cousinen). Geschickt wird auf diese Weise der individuelle Bewusstseinsstrom des Ichs an einen kollektiven gekoppelt. Das schafft Distanz zwischen beidem, bildet aber auch Gleichzeitigkeiten ab.
Noch immer kein Freund?
Das Stück, gegliedert in acht nummerierte Abschnitte, ist in einem soghaften, lyrischen Stil geschrieben, rhythmisiert, ohne Punkt und Komma, aber mit Frage- und Ausrufezeichen sowie einfachen Guillemets, um wörtliche Rede zu kennzeichnen. Prosa- und freie Versform wechseln ab. Dem Charakter von Erinnerungsfetzen entsprechend, werden Sätze oft abgebrochen, einzelne Worte oder Satzfragmente werden manisch wiederholt. Eingebaut hat Wyss auch Verweise auf oder Zeilen aus Pop-Hits, etwa "Boom Boom Pow" von The Black Eyed Peas oder "Hollaback Girl" von Gwen Stefani – Songs der Zeit, in der "Blaupause" offenbar spielt: den Jahren um 2010.
Mehrmals erinnert sich die Protagonistin an die jährlich stattfindenden Familientreffen, bei denen ihre Tante die 13-, 14-, 15-Jährige jedes Mal nach "dem Freund" fragte – "<noch immer keiner da? / na so langsam wird’s aber Zeit nicht?>" Als sei sie kein vollständiger Mensch ohne einen Sexualpartner, als sei das ein schweres Defizit. Sie erinnert sich an "Sebastian" (als Synonym für alle jungen Männer), dem übergriffigen Freund ihrer älteren, gerne genüsslich Wahrheiten aussprechenden Cousine Tanja, die wiederum ihr die entscheidende Frage ("<Lesbe?>") stellt. Eine Frage, die die Protagonistin zur Eigenerkenntnis führt und sie letztlich das eigene Begehren entdecken lässt. Sie lässt sich nicht weiter beirren von den Erwartungen ihres Umfeldes. Sie macht ihr Ding – ohne sich freilich zunächst zu outen. Das geschieht eher nebenbei in der Praxis ihrer Frauenärztin.
Auf der Ebene des Cousinen-Chors wird von patriarchaler Gewalt berichtet und von der Wirkungskraft und Macht von Bildern auf den als weiblich gelesenen Körper ("wir sind dreizehn und wollen Brüste / stopfen Tempos in den neuen Push-up BH"). Gespiegelt wird eine Erlebniswelt zwischen "Germany’s Next Topmodel" und Pornovideos (die angeschaut werden, um den "richtigen Blowjob" zu lernen), zwischen Bodyshaming durch junge Männer und sexuelle Übergriffe ("<die rasiert sich nicht / voll eklig>" oder "Sebastian aus der Parallel / <willst du wieder Bum Bum / lass mich doch auch mal ablecken> / lacht / die ganze Gruppe Sebastians lacht").
Das Bau das uns umgibt
Die "Wir"-Kollektiv-Ebene mündet in der Beschreibung des deprimierenden ersten Sexualkontakts mit einem wesentlich älteren Mann: "wir sind zwanzig und treffen uns im Urlaub mit den Eltern heimlich abends mit dem 38 Jährigen von Tinder der uns endlich". Dem ersten Geschlechtsverkehr mit diesem Mann folgt das schlechte Gewissen: "Das also ist der Moment in dem wir uns unter die Dusche stellen und uns stundenlang waschen alles abwaschen uns schmutzig fühlen" – Bilder, bekannt aus etlichen Filmen. "Das also", heißt es weiter, "ist der Moment in dem wir im Bademantel eingewickelt Apotheke Öffnungszeiten googeln". Es ist der Augenblick im Stück, in dem sich eine dritte Perspektive eröffnet: jene der Autorin, die sich per Fußnote einschaltet, im Schreiben innehält, weil sie sich selbst beim Reproduzieren heteronormativer Vorstellungen erwischt. Sie wolle sich aber "von diesen bekannten Blickrichtungen sprich von diesen bekannten Perspektiven" lösen. Die Autorin stellt sich nun masturbierend ein "Schwimmbecken voller nackter Frauen" vor, alle ein "Bum Bum Eis in der Hand", jenes Speiseeis mit dem blauen Kaugummi-Stiel.
Blau ist in "Blaupause" gekoppelt an eine ganz persönliche, positive Farberinnerung: an den Film "Blau ist eine warme Farbe" über ein junges lesbisches Liebespaar (von Abdellatif Kechiche), der bedeutsam ist für die queere Selbstfindung der Protagonistin, außerdem ans Mixgetränk Blue Curaçao, das die Protagonistin mit ihrer Partnerin in einem Club beim ersten Kennenlernen trinkt, zudem ans Blau des Sees, wo sie gemeinsam Urlaub machten. Lebensbejahende Erinnerungen, die zu Beginn für immer zu verblassen drohen, aber am Ende (als Erfolg der Trauerarbeit?) doch wieder lebendig zu werden scheinen. Ihr Traum vom gemeinsamen Ritt mit der Freundin auf einem Plastikdelfin (dem entblauten Schlüsselanhänger des Beginns) führt die Protagonistin jedenfalls zurück ins "Blau das uns umgibt". Der Kreis schließt sich.