Gastland Schweden – Es gab noch nie eine Frau wie Anna Karenina von Tone Schunnesson
Das Unmögliche erhoffen
Keine Romandramatisierung, sondern eine Überschreibung legt die schwedische Dramatikerin Tone Schunnesson mit diesem Stück vor, das Ragna Wei am Stockholmer Oriontheatern inszenierte. Aber wie weit reicht die emanzipatorische Energie, die die Gegenwart dem Stoff jetzt verpasst hat?
Von Georg Kasch
8. Mai 2023. Spot an, hier kommt Anna! Eine Diva mit großen Gesten und noch größerem Liebesbedürfnis, erst im schwarz-, später goldfunkelnden Kleid, zu der alle bewundernd aufschauen. Umgeben von etlichen beweglichen Spiegeln, die schon auf die große Seelenschau, später auch Selbstzerfleischung hinweisen, der Anna sich hingeben wird. Auf einer sonst nahezu leeren Bühne, die oft ins nebelverhangene Chiaroscuro altmeisterlicher Gemälde gehüllt ist.

Anna Karenina, die sich Hals über Kopf in den Grafen Wronskij verliebt, ihren Mann verlässt, von der Gesellschaft geschnitten und von ihrem Sohn getrennt wird, hat Lew Tolstoi 1877 zur unsterblichen Romanheldin gemacht. Sie scheitert, weil sie das Unmögliche erhofft: Dass die Liebe alles richten wird. Am Ende sind die Männer zu getrieben und die Kräfte, die an und in ihr zerren, zu stark. Sie wirft sich vor den Zug.
Druckpunkt, die sich zur Krise addieren
Mit "Es gab noch nie eine Frau wie Anna Karenina" hat die schwedische Autorin Tone Schunnesson nun keine Roman-Dramatisierung, sondern eine Überschreibung vorgelegt. Sie behält das Hauptpersonal des Romans bei, konzentriert sich aber ohne Erzählerinstanz auf die wesentlichen Handlungsstränge, die oft in Bewusstseinsströme und schnörkellose Dialoge übergehen. Anna wirkt wie eine konsequent zeitgenössische Frau, die mit ihrer Unbedingtheit auch heute noch verstören würde. Sie entdeckt sich selbst, als Liebende, Begehrende, "extra Sexhexe“, die ihre Bedürfnisse offen artikuliert: "Ich begehre mich selbst." Und die Situation, in der sie bald lebt, erinnert eher an eine nicht so richtig funktionierende Patchwork-Konstellation als ans gesellschaftliche Korsett von vor 150 Jahren. Da knallt die Episode, in der Anna in der Oper öffentlich gedemütigt wird, rein wie Fremdkörper.
Natürlich gibt es wie bei Tolstoi viele Druckpunkte, die sich zur Krise addieren. Schwerer als alles andere aber scheint ihr Leiden zu wiegen, ihre Liebe zu Wronskij als eine Art Selbstverwirklichung nicht so radikal leben zu können, wie sie es sich erhofft hat. Eine Scheidung von Karenin etwa lehnt sie zunächst ab, weil sie "die Geliebte ihres Liebhabers"sein will, nicht schon wieder Ehefrau. Hat ja schon beim ersten Mal nicht so richtig funktioniert.
Zärtliche Gier
Regisseurin Ragna Wei erzählt das am Orionteatern aus dem Halbdunkel der großen Bühne heraus, streckenweise choreografisch, dann wieder als Musiktheater: Wenn der Streicherpop seufzt und Emma Broomé ihre Monologe geradezu arienhaft via Mikroport über die Rampe schleudert, spart die Inszenierung nicht an Pathos. Muss man mögen. Aber gerade in den Szenen mit Wronskij, der bei Freddy Åsblom so schön melancholisch guckt und dessen zärtliche Gier hinreißend wirkt, ergibt sich ein merkwürdiger Sog.
Auch Martin Luuks Karenin ist interessant. Mit seiner hohen Stirn und seiner bedächtigen Art wirkt er zwar wie die Karikatur des gehörnten Ehemanns. Aber mit seiner zunächst eher entspannten Haltung zu Annas Affäre und ihrer Verklärung zur Dreiecksbeziehung (die sie nie ist) könnte er tatsächlich einer dieser eher reflektierten Männer von heute sein. Sie alle wachsen einem über drei Stunden ans Herz, gerade die Liebenden, die ausbuchstabieren, was bei Tolstoi zwischen den Zeilen steht.
Visionen und Selbstbilder
Dazu prunkt der Abend mit schönen Bildern, wenn etwa ein Schleier wie eine seltene Qualle durch den Raum schwebt oder Anna und Wronskij nicht voneinander lassen können, sie einander umkreisen und sich ineinander verschlingen. Oder wenn Anna über die Gleisschwellen balanciert, die hinten in der Betonwand eingelassen sind. Nur gibt es eben auch Längen, Annas Verheddern in Visionen und Selbstbildern, die vielen Nebenrollen, die hier eher Stichwortgeber sind und sich schon deshalb nicht immer zuordnen lassen, weil die Mikroports im Halbdunkel die Spuren verwischen.
Bei aller Zeitgenossinnenschaft: Das Leben schenkt Schunnesson ihrer Heldin nicht. Schade eigentlich. Denn wäre das nicht die wirkliche Emanzipation vom Vorbild wie von der ewig schönen Selbstmörderin gewesen, wenn Anna die Nerven behalten und auch Wronskij verlassen hätte? Aber vermutlich wäre das dann ein anderes Stück.
von Tone Schunnesson
Regie: Ragna Wei, Bühne: Ragna Wie, John Engberg, Kostüme: Sven Dahlberg Lichtdesign: Marta Khomenko, Choreografie: Lidia Wos, Sounddesign: Max-Måns Wikman, Niklas Nordström, Musik: Christopher Lancaster, Dramaturgie: Magnus Lindman.
Mit: Emma Broomé, Martin Luuk, Freddy Åsblom, Rafael Pettersson, Karin Li Körsbärsdal, Nadja Rosenberg.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
Premiere: 2. März 2023
https://orionteatern.se
>Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Pirsch
von Ivana Sokola
Regie: Jana Vetten
Alter Saal
Gastspiel FUTUR3 in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und Orangerie Theater Köln
Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern
von André Erlen und Stefan H. Kraft
Regie: André Erlen
auf Deutsch und Ukrainisch
mit deutschen und ukrainischen Übertiteln
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
draußen ist wetter (oder die erfindung der straßenverkehrsordnung) von Caspar-Maria Russo
14:30 Uhr
Blaupause von Leonie Lorena Wyss
16:00 Uhr
Doppeltreppe zum Wald von Lamin Leroy Gibba
Zwinger 1
Gastspiel Volkstheater Wien
in Kooperation mit Olivia Axel Scheucher
FUGUE FOUR: RESPONSE
von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann
Regie: Olivia Axel Scheucher
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspielhaus Bochum
Baroque
von Lies Pauwels
Regie: Lies Pauwels
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
no shame in hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal) von Svealena Kutschke
14:30 Uhr
Va†erzunge von Miriam Unterthiner
16:00 Uhr
Dann mach doch Limonade, Bitch von Kim de l’Horizon
Gastspiel Theater Dortmund
Über Leben
oder ἀτλαντὶς νῆσος. oder näher, mein gott, zu dir.
oder alles war für immer bis es aufhörte
von Annalena Küspert und Konstantin Küspert
Regie: Ruven Bircks
Nominiert für den Nachspielpreis
Amtsstübl im Verein Alt Heidelberg
Institut für Kontrolle und Exzess
saufen fechten heidelberg
Eine Theaterperformance zum Thema Studentenverbindungen und Burschenschaften
Rahmenprogramm
=>Tickets
Zwinger 3
Gastspiel Berliner Ensemble
ROT. Die Outtakes des Fabian Michael Möntges
Film von Clemens J. Setz
Regie: Kristina Seebruch
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Wir sind nach dem Sturm
von Kevin Rittberger
Regie: Marie Bues
Uraufführung
Maguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Aus dem Leben
von Brigitte Venator und Karin Beier
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Junges Ensemble Stuttgart
Oma Monika
Was war? 8+
von Milan Gather
Regie: Milan Gather
Mülheimer Kinderstückepreis 2022
Zwinger 1
Gastspiel Staatsschauspiel Dresden
Die Katze Eleonore
von Caren Jeß
Regie: Simon Werdelis
Uraufführung
Sprechzimmer
Gastspiel Theater im Marienbad Freiburg
What The Body?! 13+
Stückentwicklung von Lisa Bräuniger, Anne Wittmiß und Anna Fritsch
Regie: Anne Wittmiß
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Staatstheater Darmstadt
Drei Kameradinnen 14+
von Shida Bazyar, Fassung von Golda Barton
Regie: Isabelle Redfern
Nominiert für den Jugendstückepreis
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel Schauspiel Essen
Die Wand (360°)
Film nach dem Roman von Marlen Haushofer
VR-Fassung von Thomas Krupa
Vorstellungen um 11:Uhr, 13:30 Uhr, 18:30 Uhr
Dauer: jeweils ca. 1 Stunde
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Burgtheater Wien
Adern
von Lisa Wentz
Regie: David Bösch
Uraufführung
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Theater Basel
Wie alles endet
von Manuela Infante
Regie: Manuela Infante
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Frankfurt
Die letzte Geschichte der Menschheit
von Sören Hornung
Regie: Leon Bornemann
Nominiert für den Nachspielpreis
Marguerre Saal
Philharmonisches Orchester Heidelberg
Konzert
Sonderprogramm mit Musik aus Schweden und Finnland
Rahmenprogramm
Zwinger 3
Gastspiel OutOfTheBox in Kooperation mit LOT-Theater Braunschweig
In Ghosts We Trust
von Susanne Schuster und Ricardo Gehn
Dauer: jeweils 1 Stunde
Zeitslots:
10:00 /11:30 /
13:00/ 14:30 /
16:00/ 17:30 /
19:00/ 20:30
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Leipzig
zwei herren von real madrid
von Leo Meier
Regie: Albrecht Schroeder
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Schweden
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Leichenschmaus von Alejandro Leiva Wenger
14:30 Uhr Girls will make you blush von Åsa Lindholm
16:00 Uhr Hierarchy of Needs von Adel Darwish
Zwinger 1
Gastspiel Deutsches Theater Berlin
Das Augenlied ist ein Muskel
von Alexander Stutz
Regie: Jorinde Dröse
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Dramaten in Kooperation mit Lumor Teater Stockholm
Ambulanz
von Paula Stenström Öhman
Regie: Paula Stenström Öhman
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Schweden
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Alter Saal
Gastspiel Backa Teater Göteborg
Glücklich bis ans Ende unserer Tage [10+]
Lyckliga i alla våra dagar
von Emma Palmkvist
Regie: Lars Melin
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Orionteatern Stockholm in Kooperation mit Riksteatern
… Anna Karenina
Det har aldrig funnits en kvinna som Anna Karenina
von Tone Schunnesson
Regie: Ragna Wei
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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