Autor*innenwettbewerb, Preise und Perspektiven: Eine Festivalbilanz
Jenseits der Labels
Die Preise beim 40. Heidelberger Stückemarkt sind vergeben: Leonie Lorena Wyss erhält den Autor:innenpreis, das Festival freut sich über eine Auslastung von 95 Prozent.
Von Falk Schreiber
8. Mai 2023. Ironie der Juryentscheidungen: Da kündigte der Heidelberger Intendant Holger Schultze zur Eröffnung des 40. Heidelberger Stückemarkts noch an, dass das diesjährige Feld eine Abkehr von der Postdramatik bedeuten würde, mit eingeladenen Stücken vom Svealena Kutschke, Caspar-Marie Russo, Miriam Unterthiner und Kim de l’Horizon etwa, die tatsächlich nicht auf Textflächen setzen, sondern auf klar gezeichnete Figuren und pointierte Dialoge.

Und dann vergibt die Jury, bestehend aus der Regisseurin Sapir Heller, der Dramaturgin Elvin İlhan, der Kritikerin Christiane Lutz, der Autorin Ulrike Syha und dem Leitenden Heidelberger Schauspieldramaturgen Jürgen Popig, den mit 10000 Euro dotierten Autor:innenpreis ausgerechnet an Leonie Lorena Wyss für ihr Stück Blaupause, eine mal mit Humor, mal mit autofiktionaler Aufrichtigkeit aufgeladene, schließlich in eine Beschreibung von Tod und Verlust mündende Coming-of-Age-Geschichte. Die wie wahrscheinlich kein anderer Wettbewerbsbeitrag mit postdramatischen Formen spielt. Tja.
Rechtsruck, Identitätsdebatten, Postkolonialismus
Wobei die Juryentscheidung vollkommen verständlich ist. "Blaupause" hat als Stück den Preis mehr als verdient – Wyss findet eine eigene Stimme, formal bietet die Vorlage einiges, an das eine Theaterregie anschließen kann, nicht zuletzt spürt man eine Dringlichkeit, die sich in der Aussage der Autorin manifestiert, dass ihr die "Blaupausen, um über lesbisches Begehren zu schreiben" gefehlt hätten. Nur eine Abkehr vom postdramatischen Schreiben ist "Blaupause" definitiv nicht. Womöglich lernt man aus der Juryentscheidung allerdings, dass die Frontstellung Dramatik-Postdramatik ohnehin nicht wirklich zielführend ist. Schultzes Erkenntnis, dass "Autor:innen das Rückgrat unseres Theaters" seien, ist ja in jedem Fall gültig, unabhängig vom Label, das ihnen verpasst wird.
Wobei "Blaupause" zumindest auf den ersten Blick das am wenigsten politische Stück des diesjährigen, durchgängig auf sehr hohem Niveau operierenden Wettbewerbs ist. Rechtsruck, Identitätsdebatten, Postkolonialismus: All das kommt in Wyss’ sehr persönlich gehaltenem Text nicht vor, ganz anders als bei den übrigen Stücken. Klar, man hätte den Preis auch an Lamin Leroy Gibbas hochkreativ aktuelle Identitätsdiskurse durch den Wolf drehendes "Doppeltreppe zum Wald" vergeben können, das wäre ein politisches Statement gewesen. Aber vielleicht ging der Jury auch Gibbas allzu siegesgewisses Auftreten bei der Stücklesung gegen den Strich? Sei es drum – "Doppeltreppe zum Wald" erhält einerseits den mit 2500 Euro dotierten Publikumspreis (und wurde hier mit beeindruckenden 54,6 Prozent der Publikumsstimmen gewählt) sowie den mit 5000 Euro dotierten SWR2-Hörspielpreis, mit dem ein Hörspiel nach Gibbas Vorlage produziert wird, das beim Stückemarkt 2024 urgesendet werden soll – und für das es nach einiger Zeit auch noch ein 75-prozentiges Wiederholungshonorar geben wird.
Weitere Preise, soldide Auslastung
Der mit 5000 Euro dotierte Internationale Autor:innenpreis geht an Alejandro Leiva Wenger und sein Stück "Leichenschmaus" (und dass Jurorin Syha bei der Laudation insbesondere der Übersetzerin dankte, ist ein schöner Zug), der Nachspielpreis an Albrecht Schroeders Leipziger Inszenierung von Leo Meiers "zwei herren von real madrid" (das im Übrigen voriges Jahr beim Wettbewerb teilnahm und den Publikumspreis gewann), letztere Würdigung ist verbunden mit einer Einladung zum Rahmenprogramm der Autor:innentheatertage am Deutschen Theater Berlin.
Beim mit 6000 Euro dotierten Jugendstückepreis urteilt traditionell eine Gruppe Jugendlicher, die in ihrer als Chat-Konferenz gestalteten Laudatio auf jeden Fall den charmantesten Beitrag des Abends bringt. Und prämiert "Out There", eine Kooperation von Jungem Schauspielhaus und Theaterakademie Hamburg von Stanislava Jević nach einer Idee von Dominique Enz. Auch hiermit ist eine Festivaleinladung verbunden – ins Rahmenprogramm der Mülheimer Theatertage NRW 2024. Aber die beiden anderen für den Jugendstückepreis nominierten Prüduktion – "What the Body?!" vom Theater im Marienbad Freiburg und "Drei Kameradinnen" vom Staatstheater Darmstadt – gehen ebenfalls nicht leer aus und bekommen erstmals in der Geschichte des Festivals ein Preisgeld in Höhe von je 2000 Euro. Außerdem erhielt Svealena Kutschke für ihr Stück "no shame in hope" eine lobende Juryerwähnung.
Insgesamt zeigt sich Intendant Schultze zufrieden mit dem Verlauf des 40. Stückemarkts. Insgesamt 8800 Zuschauer:innen besuchten die 20 deutschsprachigen Gastspiele, unter anderem vom Wiener Burgtheater, dem Deutschen Theater Berlin und dem Theater Basel, neun Lesungen der Autor*innenwettbewerbe, drei Produktionen aus dem Gastland Schweden sowie das Rahmenprogramm mit Partys, Podiums- und Nachgesprächen – das ergibt eine solide Auslastung von 95 Prozent.
falkschreiber.com
>Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Pirsch
von Ivana Sokola
Regie: Jana Vetten
Alter Saal
Gastspiel FUTUR3 in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und Orangerie Theater Köln
Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern
von André Erlen und Stefan H. Kraft
Regie: André Erlen
auf Deutsch und Ukrainisch
mit deutschen und ukrainischen Übertiteln
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
draußen ist wetter (oder die erfindung der straßenverkehrsordnung) von Caspar-Maria Russo
14:30 Uhr
Blaupause von Leonie Lorena Wyss
16:00 Uhr
Doppeltreppe zum Wald von Lamin Leroy Gibba
Zwinger 1
Gastspiel Volkstheater Wien
in Kooperation mit Olivia Axel Scheucher
FUGUE FOUR: RESPONSE
von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann
Regie: Olivia Axel Scheucher
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspielhaus Bochum
Baroque
von Lies Pauwels
Regie: Lies Pauwels
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
no shame in hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal) von Svealena Kutschke
14:30 Uhr
Va†erzunge von Miriam Unterthiner
16:00 Uhr
Dann mach doch Limonade, Bitch von Kim de l’Horizon
Gastspiel Theater Dortmund
Über Leben
oder ἀτλαντὶς νῆσος. oder näher, mein gott, zu dir.
oder alles war für immer bis es aufhörte
von Annalena Küspert und Konstantin Küspert
Regie: Ruven Bircks
Nominiert für den Nachspielpreis
Amtsstübl im Verein Alt Heidelberg
Institut für Kontrolle und Exzess
saufen fechten heidelberg
Eine Theaterperformance zum Thema Studentenverbindungen und Burschenschaften
Rahmenprogramm
=>Tickets
Zwinger 3
Gastspiel Berliner Ensemble
ROT. Die Outtakes des Fabian Michael Möntges
Film von Clemens J. Setz
Regie: Kristina Seebruch
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Wir sind nach dem Sturm
von Kevin Rittberger
Regie: Marie Bues
Uraufführung
Maguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Aus dem Leben
von Brigitte Venator und Karin Beier
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Junges Ensemble Stuttgart
Oma Monika
Was war? 8+
von Milan Gather
Regie: Milan Gather
Mülheimer Kinderstückepreis 2022
Zwinger 1
Gastspiel Staatsschauspiel Dresden
Die Katze Eleonore
von Caren Jeß
Regie: Simon Werdelis
Uraufführung
Sprechzimmer
Gastspiel Theater im Marienbad Freiburg
What The Body?! 13+
Stückentwicklung von Lisa Bräuniger, Anne Wittmiß und Anna Fritsch
Regie: Anne Wittmiß
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Staatstheater Darmstadt
Drei Kameradinnen 14+
von Shida Bazyar, Fassung von Golda Barton
Regie: Isabelle Redfern
Nominiert für den Jugendstückepreis
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel Schauspiel Essen
Die Wand (360°)
Film nach dem Roman von Marlen Haushofer
VR-Fassung von Thomas Krupa
Vorstellungen um 11:Uhr, 13:30 Uhr, 18:30 Uhr
Dauer: jeweils ca. 1 Stunde
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Burgtheater Wien
Adern
von Lisa Wentz
Regie: David Bösch
Uraufführung
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Theater Basel
Wie alles endet
von Manuela Infante
Regie: Manuela Infante
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Frankfurt
Die letzte Geschichte der Menschheit
von Sören Hornung
Regie: Leon Bornemann
Nominiert für den Nachspielpreis
Marguerre Saal
Philharmonisches Orchester Heidelberg
Konzert
Sonderprogramm mit Musik aus Schweden und Finnland
Rahmenprogramm
Zwinger 3
Gastspiel OutOfTheBox in Kooperation mit LOT-Theater Braunschweig
In Ghosts We Trust
von Susanne Schuster und Ricardo Gehn
Dauer: jeweils 1 Stunde
Zeitslots:
10:00 /11:30 /
13:00/ 14:30 /
16:00/ 17:30 /
19:00/ 20:30
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Leipzig
zwei herren von real madrid
von Leo Meier
Regie: Albrecht Schroeder
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Schweden
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Leichenschmaus von Alejandro Leiva Wenger
14:30 Uhr Girls will make you blush von Åsa Lindholm
16:00 Uhr Hierarchy of Needs von Adel Darwish
Zwinger 1
Gastspiel Deutsches Theater Berlin
Das Augenlied ist ein Muskel
von Alexander Stutz
Regie: Jorinde Dröse
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Dramaten in Kooperation mit Lumor Teater Stockholm
Ambulanz
von Paula Stenström Öhman
Regie: Paula Stenström Öhman
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Schweden
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Alter Saal
Gastspiel Backa Teater Göteborg
Glücklich bis ans Ende unserer Tage [10+]
Lyckliga i alla våra dagar
von Emma Palmkvist
Regie: Lars Melin
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Orionteatern Stockholm in Kooperation mit Riksteatern
… Anna Karenina
Det har aldrig funnits en kvinna som Anna Karenina
von Tone Schunnesson
Regie: Ragna Wei
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
.