Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg – Aus dem Leben
Gute Reise
Mit "Aus dem Leben" haben Karin Beier und Brigitte Venator einen Abend über das Sterben gemacht, also über jene, die sonst nicht zu Wort kommen. Entstanden ist ein zutiefst empathisches Theater der Stimmen.
Von Dorte Lena Eilers
2. Mai 2023. Als erstes würde er sie nach ihrem Namen fragen. Dann nach ihrem Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnort. Die einfachen Koordinaten des Lebens. Unmittelbar darauf folge die Frage, ob sie sicher seien, es zu tun. Sagen sie ja, wünsche er ihnen eine gute Reise.

Wer spricht im Theater mit den Sterbenden?
So einfach, wie Markus John es an diesem Abend im Marguerre-Saal des Theater Heidelberger schildert, ist es nicht. So einfach lässt es sich nicht sagen. Nicht im Leben und nicht auf der Bühne. "Aus dem Leben" ist laut Programmzettel ein "Projekt" von Brigitte Venator und Karin Beier. "Projekt" klingt schlimm. Nennen wir es lieber anders. Das, was Venator und Beier hier erschaffen haben, ist ein Theater der Stimmen. Ein Theater derjenigen, deren Stimmen man gerne ausblendet. Weil sie nicht vom Leben erzählen, sondern vom Sterben. Der Abend ist aus zahlreichen Interviews mit Sterbebegleiter:innen, Palliativpfleger:innen, Suizidwilligen und ihren Angehörigen komponiert. Das macht ihn, auch für das Theater, so besonders.
In den großen Dramen der Theatergeschichte wird eigentlich ständig gestorben. Insbesondere bei Shakespeare, dessen Sprache wir so bewundern, sind am Ende gerne mal die Hälfte der Figuren tot. Wenn es aber um unseren eigenen Tod geht, über das Nachdenken, wann und wie wir möglicherweise sterben werden oder gar wollen, sind wir sprachlos. Erst in den vergangenen drei Jahren, einhergehend mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches das Verbot der "geschäftsmäßigen" Suizidhilfe aufhob, wurde vermehrt darüber debattiert, wie ein würdevolles Sterben, so denn es nicht schnell und plötzlich vor sich geht, aussehen könnte. "Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen", hatte Heiner Müller seine Poetik einst formuliert. Doch wer spricht im Theater mit den Sterbenden?
Balance zwischen Spiel und Realität, Leichtigkeit und Verzweiflung
Hier, in "Aus dem Leben", kommen sie zu Wort. Sie und ihre Angehörigen, ihre Begleiter:innen und Helfer:innen. Markus John, Carlo Ljubek, Maximilian Scheidt und Julia Wieninger leihen ihnen ihre Stimmen, ihre Körper und Emotionen, derart sanft, empathisch, ernst, aber auch ironisch, schoddrig, patzig, dass der Abend nahezu unmittelbar beginnt zu schweben. Markus John übernimmt die Geschichte eines Berufsschullehrers, der seine Tätigkeit als Sterbehelfer recht pragmatisch absolviert, sich aber der Freude, die im entgegenschlägt, nicht verschließen kann. Freude? Ja. Viele Menschen, die monatelang nur Schmerzen kannten, schildert er, empfinden den Moment, an dem ihr Sterbetermin feststeht, als Befreiung – eben weil sie selbst über den Zeitpunkt entscheiden. Julia Wieninger erzählt von dem Ringen um einen würdevollen Tod ihrer Eltern im Kampf mit einer lebensverlängernden High-Tech-Medizin. Maximilian Scheidt berichtet, wie er wiederum seinen schon früh dem Schweizer Sterbehilfeverein Exit beigetreten Eltern am Mittagstisch bei Lammkeule und Erbsen bei ihren Suizidplänen zuhören muss. Carlo Ljubek übernimmt den Bericht eines krebskranken Mannes, der im Verlaufe des Abends Abschied nehmen lernt.
Julia Wieninger im Altenheim-Setting zwischen dem, was von einem Leben bleibt © Thomas Aurin
Sie alle versammeln sich auf Amber Vandenhoecks Bühne, die einem Salon in einem Seniorenheim nachempfunden scheint: Schwere Brokatsessel und eine weiße Tafel mit Kaffeespender am rechten Bühnenrand, links eine kleine Bühne, mit weißen, silbernen und goldenen Luftballons umkränzt, an den Wänden Ölgemälde, zwei hohe Fenster und eine Tür mit Notausgang-Schild. Anfangs glaubt man, sich in einem Anna-Viebrock-Bühnenbild zu befinden – tatsächlich tönt hinter den Gemälden, wenn man sie anhebt, ganz Marthalerisch Musik – und auch die vielen theatralen Verrichtungen, welche die Spielerinnen und Spieler zu tätigen haben – die Tafel decken, Ballons aufblasen, Totenmasken überziehen – wirken anfangs fremd gegenüber der Unmittelbarkeit der hier verhandelten Geschichten. Tatsächlich aber ist es genau diese Balance zwischen Spiel und Realität, Leichtigkeit und Verzweiflung, Freude und Schrecken, die den Abend von Karen Beier und ihrem Ensemble zu einem Ereignis von großer Wärme und Menschlichkeit werden lassen.
Mit den vielen Stimmen im Kopf
In vielen Windungen, Ambivalenzen, Zögerlichkeiten, in einem ständigen Für und Wider wird hier vor allem die Frage umkreist, wie ein würdevoller Tod aussehen soll. Was bedeutet Würde? Und was der Schutz des Lebens? Beides höchste Güter unseres Rechtsverständnisses und damit auch zentrale Aspekte all der politischen Debatten, die als Stimmengemurmel immer mal wieder eingespielt werden. Insbesondere ist es die Hospizpflegerin, welche an diesem Abend anstelle der erkrankten Lina Beckmann von allen gesprochen wird, die die Frage stellt, warum es plötzlich als unwürdig gelte, sich von anderen pflegen zu lassen. "Die Würde des Menschen hat doch nichts damit zu tun, ob er sich selbst den Hintern abwischen kann." Ebenso bringt sie die Position der Palliativmedizin mit ins Spiel, die verspricht, jedem dank Schmerzmitteln zu einem sanften Tod zu verhelfen. Aber lässt sich die Frage nach einem würdevollen Sterben überhaupt allgemein beantworten? Oder ist die jeweilige Antwort nicht vielmehr eine sehr persönliche? Karin Beiers Theater der Stimmen lässt die Vielheit der Entscheidungen zu Wort kommen und überschreitet dabei nur einmal eine Grenze. Zum Ende hin wird das Telefonat einer Sterbewilligen eingespielt, die, aus der Anonymität der theatralen Stellvertreterschaft entrissen – ihr Name wird zwar nicht genannt, aber sie selbst ist auf ungeschützte Weise hörbar –, wie ausgestellt wirkt.
"Aus dem Leben" ist ein harter und zärtlicher, ehrlicher und verträumter, trauriger und berührender Abend, getragen von einem großartigen Ensemble. Am Ende explodiert die zweieinhalbstündige Konzentration, die im Raum geherrscht hat, in einem wilden "Dia de Muertos", einer mexikanischen Feier der Toten samt Blascombo. Hätte es dieses Endes gebraucht? Eigentlich nicht. Man hätte das Publikum auch so in den Abend entlassen können: mit den vielen Stimmen im Kopf und über das Leben nachdenkend, zu dem er unweigerlich gehört: La Muerte. Der Tod.
basierend auf Interviews mit Sterbebegleiter:innen, Palliativpfleger:innen, Suizidwilligen und ihren Angehörigen
Ein Projekt von Brigitte Venator und Karin Beier
Regie: Karin Beier, Interviews geführt von Brigitte Venator, Interviews bearbeitet von: Julian Pörksen, Bühne: Amber Vandenhoeck, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Jörg Gollasch, Choreografie Valentí Rocamora i Torà, Licht: Björn Salzer, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Lina Beckmann, Markus John, Carlo Ljubek, Maximilian Scheidt, Julia Wieninger
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, keine Pause
schauspielhaus.de
>Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Pirsch
von Ivana Sokola
Regie: Jana Vetten
Alter Saal
Gastspiel FUTUR3 in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und Orangerie Theater Köln
Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern
von André Erlen und Stefan H. Kraft
Regie: André Erlen
auf Deutsch und Ukrainisch
mit deutschen und ukrainischen Übertiteln
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
draußen ist wetter (oder die erfindung der straßenverkehrsordnung) von Caspar-Maria Russo
14:30 Uhr
Blaupause von Leonie Lorena Wyss
16:00 Uhr
Doppeltreppe zum Wald von Lamin Leroy Gibba
Zwinger 1
Gastspiel Volkstheater Wien
in Kooperation mit Olivia Axel Scheucher
FUGUE FOUR: RESPONSE
von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann
Regie: Olivia Axel Scheucher
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspielhaus Bochum
Baroque
von Lies Pauwels
Regie: Lies Pauwels
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
no shame in hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal) von Svealena Kutschke
14:30 Uhr
Va†erzunge von Miriam Unterthiner
16:00 Uhr
Dann mach doch Limonade, Bitch von Kim de l’Horizon
Gastspiel Theater Dortmund
Über Leben
oder ἀτλαντὶς νῆσος. oder näher, mein gott, zu dir.
oder alles war für immer bis es aufhörte
von Annalena Küspert und Konstantin Küspert
Regie: Ruven Bircks
Nominiert für den Nachspielpreis
Amtsstübl im Verein Alt Heidelberg
Institut für Kontrolle und Exzess
saufen fechten heidelberg
Eine Theaterperformance zum Thema Studentenverbindungen und Burschenschaften
Rahmenprogramm
=>Tickets
Zwinger 3
Gastspiel Berliner Ensemble
ROT. Die Outtakes des Fabian Michael Möntges
Film von Clemens J. Setz
Regie: Kristina Seebruch
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Wir sind nach dem Sturm
von Kevin Rittberger
Regie: Marie Bues
Uraufführung
Maguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Aus dem Leben
von Brigitte Venator und Karin Beier
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Junges Ensemble Stuttgart
Oma Monika
Was war? 8+
von Milan Gather
Regie: Milan Gather
Mülheimer Kinderstückepreis 2022
Zwinger 1
Gastspiel Staatsschauspiel Dresden
Die Katze Eleonore
von Caren Jeß
Regie: Simon Werdelis
Uraufführung
Sprechzimmer
Gastspiel Theater im Marienbad Freiburg
What The Body?! 13+
Stückentwicklung von Lisa Bräuniger, Anne Wittmiß und Anna Fritsch
Regie: Anne Wittmiß
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Staatstheater Darmstadt
Drei Kameradinnen 14+
von Shida Bazyar, Fassung von Golda Barton
Regie: Isabelle Redfern
Nominiert für den Jugendstückepreis
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel Schauspiel Essen
Die Wand (360°)
Film nach dem Roman von Marlen Haushofer
VR-Fassung von Thomas Krupa
Vorstellungen um 11:Uhr, 13:30 Uhr, 18:30 Uhr
Dauer: jeweils ca. 1 Stunde
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Burgtheater Wien
Adern
von Lisa Wentz
Regie: David Bösch
Uraufführung
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Theater Basel
Wie alles endet
von Manuela Infante
Regie: Manuela Infante
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Frankfurt
Die letzte Geschichte der Menschheit
von Sören Hornung
Regie: Leon Bornemann
Nominiert für den Nachspielpreis
Marguerre Saal
Philharmonisches Orchester Heidelberg
Konzert
Sonderprogramm mit Musik aus Schweden und Finnland
Rahmenprogramm
Zwinger 3
Gastspiel OutOfTheBox in Kooperation mit LOT-Theater Braunschweig
In Ghosts We Trust
von Susanne Schuster und Ricardo Gehn
Dauer: jeweils 1 Stunde
Zeitslots:
10:00 /11:30 /
13:00/ 14:30 /
16:00/ 17:30 /
19:00/ 20:30
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Leipzig
zwei herren von real madrid
von Leo Meier
Regie: Albrecht Schroeder
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Schweden
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Leichenschmaus von Alejandro Leiva Wenger
14:30 Uhr Girls will make you blush von Åsa Lindholm
16:00 Uhr Hierarchy of Needs von Adel Darwish
Zwinger 1
Gastspiel Deutsches Theater Berlin
Das Augenlied ist ein Muskel
von Alexander Stutz
Regie: Jorinde Dröse
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Dramaten in Kooperation mit Lumor Teater Stockholm
Ambulanz
von Paula Stenström Öhman
Regie: Paula Stenström Öhman
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Schweden
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Alter Saal
Gastspiel Backa Teater Göteborg
Glücklich bis ans Ende unserer Tage [10+]
Lyckliga i alla våra dagar
von Emma Palmkvist
Regie: Lars Melin
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Orionteatern Stockholm in Kooperation mit Riksteatern
… Anna Karenina
Det har aldrig funnits en kvinna som Anna Karenina
von Tone Schunnesson
Regie: Ragna Wei
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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