Gastspiel Theater Lübeck – Bomb. Variationen einer Verweigerung
Der Geruch des Krieges
Was kann die Kunst, was das Leben nicht hinkriegt, besonders bei der Bewältigung von Kriegstraumata? Dieser Frage geht anhand von drei Biografien die israelische Dramatikerin Maya Arad Yasur nach. Sapir Hellers Inszenierung tritt in Heidelberg im Wettbewerb um den Nachspielpreis an.
Von Verena Großkreutz
3. Mai 2024. Am Ende riecht’s im ganzen Saal nach Dosentomaten und Zuckerwatte. Es ist kein angenehmer Geruch, weil er sich im Laufe des Abends mit Symbolik aufgeladen hat: Mit Zuckerwattenwolken werden Bomben angedeutet, die von Fliegern abgeworfen werden und − unten angekommen − Körper zerfetzen: was durchs Aufklatschen der Tomaten auf den Boden visualisiert wird, die aus Dosen geschüttet werden. In "Bomb. Variationen über Verweigerung", einem Stück der israelischen Schriftstellerin Maya Arad Yasur, geht es schließlich um Krieg, einen namenlosen Krieg. Er könnte überall auf der Welt stattfinden. "Die Welt ist ein Riesenarsch voller Kriegshämorrhoiden", heißt es einmal.
Es geht in "Bomb" vor allem um die Biografien zweier kriegstraumatisierter Kinder und ihr Erwachsensein. Ein Junge und ein Mädchen, die beide zu Künstler:innen werden. Ihre Leben verweben sich im perspektivenreichen Geflecht unterschiedlicher Stimmen miteinander. Die ebenfalls aus Israel stammende, in Deutschland arbeitende Regisseurin Sapir Heller hat in die komplexe Sprachpartitur sehr genau hineingehört und sie dementsprechend präzise am Theater Lübeck auf die Bühne gebracht.
Lama heißt auf Hebräisch "Warum?"
Später stopfen die Darsteller:innen die Tomaten in sich rein oder schmieren sich die Soße auf den Körper, immer wieder schwappen neue Geruchswellen dieser Dosentomaten in den Saal, vermischen sich mit den Ausdünstungen des Zuckerwattenautomats. Im Zentrum der ansonsten requisitenarmen Bühne von Anna van Leen (sieht man einmal ab von übersichtlichen Konservendosenpyramiden und Zuckerwattewäldchen) steht ein weiteres Symbol: ein riesenhaftes Spielzeug-Lama mit lustigen Glotzaugen, geschmückt in der Art der Piñatas, jener bunt gestalteten Figuren aus dem südamerikanischen Raum, die für Kinder mit Süßigkeiten gefüllt werden.
"Lama" bedeutet in der hebräischen Sprache aber auch "Warum?" – was wiederum die klassische Antikriegsfrage ist. Und später wird die knuffige Tierfigur zum Symbol für den Bomber und seine tödliche Fracht umgedeutet: in dem es beritten in die Höhe gezogen wird. Krasse, eindrückliche Bilder hat Sapir Heller gefunden für zerstörte Kindheiten: Das gewohnte Liebgewonnene verwandelt sich in albtraumartigen Schrecken − ob Zuckerwatte, Tomatensauce oder Piñatas.
Alles beginnt auf einer Kunstbiennale: eine Künstlerin namens Naomi, wird erzählt, errege dort Aufsehen, weil sie sich ihre Haare ausreiße, sie zu Flügeln forme, die sie dann auf ihren Körper klebe und sich selbst als "Ich bin Ikarus"-Kunstwerk ausstelle. Die sechs Schauspieler:innen entfachen eine Interpretationssuada, in der die Vita der Künstlerin als Erklärungsmuster herangezogen wird. Ihr Vater, ein Panzersoldat, überlebte nur knapp den Bombenangriff eines Piloten namens Eatherly, dem wiederum der Vater eines Jungen (der später zu einem berühmten Fotografen werden wird) zum Opfer fiel, als er Menschen aus einem brennenden Auto retten wollte. Eatherly, der Kriegspilot, wird sich ändern, seine Taten moralisch hinterfragen. Er wird sich später dem Befehl, ein Schulgebäude als angebliches Terroristennest zu bombardieren, verweigern, weil dabei auch Zivilisten getötet werden könnten.
Sphärische Klanglandschaften
Was in comedyhafter Übertreibung beginnt, verdichtet sich immer mehr zur vielstimmigen Erzählung über das Grauen des Krieges. Die Stärke des Abends liegt in der ungemein plastischen, lebendigen, emotional aufrüttelnden Art, wie Astrid Färber, Andreas Hutzel, Samantha Ritzinger, Henning Sembritzki, Vincenz Türpe und Will Workman den Text performen, sich die Bälle zuspielen und in Gruppen choreographiert gestisch agieren − ob sie nun im Takt stampfen und trampeln oder sich in lustigen Flugbewegungen üben.
Und dann ist da noch die Musikerin Rahel Hutter, die am Synthesizer, mit Electronics und Gesang für sphärische Klanglandschaften sorgt – mit überformter, bunter Irokesenfrisur und mit Vorliebe fürs Säuseln lapidarer Silben wie "Blabla" und "Lama". Ist sie Naomi? Wäre möglich.
Möglichkeiten der Kunst
Es geht in "Bomb" auch um die Frage, worin die Kraft der Kunst liegt angesichts solcher politischen und menschlichen Katastrophen. Was kann Kunst, was Realität nicht kann? Zumindest ist sie ja wohl ein legitimes Mittel zur Traumaverarbeitung. Immer wieder stellt jemand im Stück die Frage, "ob das denn jetzt Kunst sei" ¬− zu Beginn noch im Kontext der fiktiven Biennale, dann ans Stück selbst. Interessant, dass sich diese Frage als immer lächerlicher erweist: als Jargon der Kulturschnösel. Aber dass dies wie von selbst geschieht, das ist der formidablen Inszenierung zu verdanken. Keine Frage.
von Maya Arad Yasur
Deutsch von Matthias Naumann Regie: Sapir Heller, Bühne und Kostüme: Anna van Leen, Musik: Rahel Hutter, Licht: Daniel Thulke, Dramaturgie: Cornelia von Schwerin.
Mit: Astrid Färber, Rahel Hutter, Andreas Hutzel, Samantha Ritzinger, Henning Sembritzki, Vincenz Türpe, Will Workman.
Premiere am 3. Februar 2023
Uraufführung am 8. Februar 2020 am Schauspiel Köln
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theaterluebeck.de
Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
Die ersten hundert Tage von Lars Werner
14:30 Uhr
Brennendes Haus von Anaïs Clerc
16:00 Uhr
2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger von Frankfurter Hauptschule
Zwinger 1
Gastspiel Lichthoftheater Hamburg
JUDEN JUDEN JUDEN
von und mit Hamburger Jüd*innen und Texten von Simoné Goldschmidt-Lechner
Regie: Ron Zimmering und Dror Aloni
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Düsseldorfer Schauspielhaus
My Private Jesus
von Lea Ruckpaul
nach einer Idee von Eike Weinreich
Regie: Bernadette Sonnenbichler
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
präsentiert von Zwinger x
Rahmenprogramm
Eintritt frei
Zwinger 3 und online
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
Ghostbike von Julie Gurgonis
14:30 Uhr
DRUCK! von Arad Dabiri
16:00 Uhr
Kind aus Seide von Leonie Ziem
Gastspiel Theaterhaus Jena
Die Hundekotatacke
von Walter Bart, Hannah Baumann, Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfanenmüller, Anna K. Seidel / Wunderbaum
Regie: Walter Bart
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Schauspielhaus Wien
Die vielen Stimmen meines Bruders
Es Stück für an- und abwesende Körper
von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster
Regie: Marie Bues und Anouschka Trocker
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Theater Bielefeld
else (someone)
von Carina Sophie Eberle
Regie: Nadja Loschky
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Alter Saal
Gastspiel Junges Schauspiel – Düsseldorfer Schauspielhaus
Time to Shine
Tanz und Theaterspektakel von Takao Baba + Ensemble
Inszenierung für schwerhörige und taube Menschen
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Stuttgart
forecast:oedipus
von Thomas Köck
Regie: Stefan Pucher
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Expanded Theater | Hochschule der Künste, Bern
FRONTSTAGE
Männlichkeit zwischen Spiel und Krieg
von und mit Polina Solotowizki, Bogdan Kapon und Ivan Borisov
Regie: Polina Solotowizki
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Theater Konstanz
Tragödienbastard
von Ewe Benbenek
Regie: Emel Aydoğdu
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Fremd
von Michel Friedmann
Regie: Stefan Kimming
Uraufführung
Zwinger 3
Theater und Orchester Heidelberg
Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau 10+
sehr frei nach Hans-Christian Andersen von Roland Schimmelpfennig
Regie: Marcel Kohler
Mülheimer Kinderstückepreis 2023
Alter Saal
Gastspiel Theater Lübeck
BOMB
von Maya Arad Yasur
Regie: Sapir Heller
Zwinger 3
Gastspiel Turbo Pascal, Berlin
Common Things
von Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Regie: Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauburg München
Erik*a 15+
mit Texten von Theresa Seraphin
Regie: Daniel Pfluger und Lukas März
Alter Saal
Gastspiel Landestheater Linz
Fischer Fritz
Regie: David Bösch
Marguerre- Saal
Gastspiel Schaubühne Berlin
In Memory of Doris Bither
von Yana Thönnes
Regie: Yana Thönnes
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
mit Musik aus dem Gastland Georgien
Eintritt frei
Sprechzimmer
Gastspiel Laboratory of Perfoming Arts, Tblissi
Zwilinge
von Giorgi Maisuradze
Regie: Giorgi Maisuradze
Gergisch mit deutschen Übertiteln
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Georgien
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Der weiße Hund von Davit Khorbaladze
14:30 Uhr Terzett von Marita Liparteliani
16:00 Uhr Wer klopft von Alex Chigvinadze
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili und Masho Makshvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Alter Saal
Gastspiel Royal District Theatre, Tblissi
Medea s01e06
von Paata Tsikola
Regie: Paata Tsikola
Georgisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Georgien
u.a mit Gastland Kurator Davit Gabunia
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili, Masho Makshvili und Elene Matskhonashvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Zwinger 1
Gastspiel Georgian Regional Theatre Networks
Niko Nikoladze - Sergo Parajanov
von Elene Matskhonashvili, Tengiz Khukhia und Levan Khetaguri
Regie: Elene Matskhonashvili
Georgisch nmit deutschen Übertriteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Antropolis II: Laios
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
.