Gastspiel Berliner Ensemble - Rot
Rambos Tränen
Der Büchnerpreisträger Clemens J. Setz hat einen Monolog über einen Amokläufer geschrieben, den Kristina Seebruch für das Berliner Ensemble verfilmt hat. "Rot" ist ein Manifest in 43 Variationen – peinlich, grotesk, bedrückend.
Von Dorte Lena Eilers
1. Mai 2023. Rache ist ein unzähmbarer Begriff. Mehrstündige Dramen wurden über ihn geschrieben. Hunderte von Romanseiten. Tausende von Noten. Was aber, wenn man nur drei Minuten hat, um seine Rache zu erklären? Seine Tat: mehrere Tote, der Attentäter "im Himmel". Drei Minuten! Das Gesetz im Netz. Kurz bevor der Bildschirm wieder schwarz wird, sehen wir Fabian Michael Möntges verzerrtes Gesicht. Wie erklärt man, dass man drauf und dran ist, eine Horde Menschen zu ermorden? Welcher Ausdruck ist angemessen? Welches Hemd? Welches Setting? "Mein Inneres ist tot. Äh, nein. Rot." Mist. Wieder ein verpatzter Versuch.

43 derartige Videos soll die Polizei, die im Fall des Amoklaufs in der Taublacher Volksschule ermittelt, auf dem Computer des Attentäters gefunden haben. Rätselhafte, unbeholfene, peinliche Dokumente, die einen blassen Jungen zeigen, der versucht, böse zu sein. Oder besser gesagt: der versucht, jemand zu sein, denn offenbar glitten die Blicke von Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern jahrelang an seinem allzu ebenen Gesicht einfach ab.
Die persönliche Wut wird politisch
Das Internet ist – das ist nach Jahrzehnten exzessiver Nutzung gemeinhin bekannt – in Sachen Öffentlichkeit ein zwiespältiger Ort. Dient es vielen Menschen dazu, im zuvor leitmedial kanalisierten Grundrauschen der Stimmen überhaupt vorzukommen, findet parallel dazu allerlei Fragwürdiges statt. Die hier herrschende Öffentlichkeit ist, auch wenn Millionen unterbezahlter Content-Moderatoren im Auftrag der großen Tech-Konzerne unermüdlich dagegen anarbeiten, unkuratiert. Eine große Spielwiese für Orientierungslose, Außenseiter, Verzweifelte, ja, in letzter, verstörender Konsequenz auch für Amokläufer und Attentäter, welche die verführerische Distributionskraft der Plattformen nutzten, um ihre Manifeste dort zu platzieren.
Der Büchnerpreisträger Clemens J. Setz hat sich immer schon für Menschen interessiert, die nicht nach den herkömmlichen Normen der Durchschnittsgesellschaft funktionieren oder gerade aufgrund dieser Normen an den Rand geraten sind. Die Tragik der Figur aus seinem am Berliner Ensemble produzierten und nun im Rahmen des Netzmarktes gezeigten Theaterfilm "Rot – Die Outtakes des Fabian Michael Möntges" ist es, dass Normen sich durchaus verändern. Galt lange Zeit der Durchschnittsbürger mit seinem Durchschnittsgesicht, seiner Ikea-Durchschnitts-Zimmereinrichtung und seiner Durchschnittsmutter als mediale Referenzgröße, hat das Internet dank Instagram und Facebook ein neues Leitbild kreiert: den superindividuellen, allzeit kreativen User, der mit einem Fingerklick Aufmerksamkeit generiert. Aufmerksamkeit – die neue, heiße Währung.
Paul Zichner als Fabian Michael Möntges in einem der Outtakes © Filmstill: Kai Schadeberg
Fabian Michael Möntges ist weder individuell noch kreativ. Zumindest glaubt er das. Regisseurin Kristina Seebruch hat Schauspieler Paul Zichner in eine gutbürgerliche, steril wirkende Wohnung gesetzt, in der Mutter Möntges, gespielt von Constanze Becker, mit akribischer Akkuratesse Betten bezieht. In dieser Wohnung sind keine Abweichungen gewünscht – und damit vielleicht auch kein Leben? Der Zuschauer glaubt all diese Vorgänge durch das Kamera-Auge von Möntges Laptop zu sehen. Die 43 Takes bestehen aus Versuchen, das Unsagbare sagbar zu machen. Die Wut, die Enttäuschung, die Einsamkeit, die Kämpfe.
Anders als Milo Rau und Christian Lollike, die sich beide vor vielen Jahren mit den kruden Ideologien von Andreas Breivik beschäftigten, der sein Manifest ebenfalls im Internet veröffentlichte, geht es Setz und damit auch Möntges nicht um einen ideologischen Überbau. Wenn überhaupt, schleicht sich dieser nur zögerlich in das Manifest. Sitzt Möntges anfangs noch bebrillt und in Streberhemd vor der Kamera, werden Kleidung und Auftreten Take für Take martialischer. Ein Rambo-Muskel-Shirt kommt hinzu, rote Farbe im Gesicht plus ein halbfertiges Antifa-A auf der Stirn. Plötzlich ist im Manifest auch vom Waldsterben die Rede. Die persönliche Wut wird politisch.
Ins Herz des Theaters
Kristina Seebruch hat – womöglich aus diesem Grund? – die Takes mit seltsam elegischen Naturszenen verschnitten: Die erste Einstellung zeigt Möntges auf dem Weg zu einem großen Nussbaum, an dem er sich, so die Stimme aus dem Off, nach erfolgtem Amoklauf erhängen wird. In Zwischenszenen sehen wir ihn immer wieder unterm Baum, auf dem Baum, am Baum – eine merkwürdig kitschige Idee. Die Takes sind, da vielfältig deutbar, wesentlich interessanter. Ist man anfangs regelrecht irritiert, wie "schlecht" Paul Zichners Performance als Fabian Michael Möntges wirkt, die Sprache gestanzt, die Gesten kopiert, versteht man mit jedem Take mehr, dass in genau diesem Weg vom "schlechten Schauspieler" zum entschlossen auftretenden Rambo-Double der ganze traurige Emanzipationsprozess des jungen Mannes liegt.
Das Spiel mit den Möglichkeiten von Aneignung und Verkleidung, das uns auf verquere Weise auch zurück ins Herz des Theaters führt, sorgt bei Möntges offenbar für Selbstvertrauen. Die Stimme wird fester, der Blick weniger fahrig. Auf mehreren Ebenen erzählt Setz in diesem Film – der, ursprünglich im Rahmen des BE-Dramatiker:innen-Fonds als Theaterstück konzipiert, im zweiten Lockdown gedreht und im November 2022 uraufgeführt wurde – was zwischen Alltag und Inszenierung, Leben und Theater alles möglich ist: Die einen spielen sich in die Freiheit, die anderen in den Tod. Möntges verbleibt mit seiner Performance letztlich in der medialen Einsamkeit der Bilder. Die Rambo-Pose zerbricht. Nur die Tat kann die Bilder sprengen, doch auch sie, es ist zum Verzweifeln, erzeugt kein Wir.
Für Paul Zichner ist der Monolog ein performativer Ritt: durch Erschöpfung und Wut, Resignation und Komik, Erstaunen und Scham. Mit diesen Ambivalenzen spielt der Film, sodass man am Ende, wie bei allen großen Setz-Figuren, nicht weiß, ob man rot wird vor Lachen oder Weinen.
von Clemens J. Setz
Regie: Kristina Seebruch, Kamera/Schnitt: Kai Schadeberg, Kostüme: Anneke Goertz, Dramaturgie: Johannes Nölting
Mit: Paul Zichner und Constanze Becker
Uraufführung am 25. November 2022
Dauer: 53 Minuten
www.berliner-ensemble.de
>Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Pirsch
von Ivana Sokola
Regie: Jana Vetten
Alter Saal
Gastspiel FUTUR3 in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln und Orangerie Theater Köln
Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern
von André Erlen und Stefan H. Kraft
Regie: André Erlen
auf Deutsch und Ukrainisch
mit deutschen und ukrainischen Übertiteln
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
draußen ist wetter (oder die erfindung der straßenverkehrsordnung) von Caspar-Maria Russo
14:30 Uhr
Blaupause von Leonie Lorena Wyss
16:00 Uhr
Doppeltreppe zum Wald von Lamin Leroy Gibba
Zwinger 1
Gastspiel Volkstheater Wien
in Kooperation mit Olivia Axel Scheucher
FUGUE FOUR: RESPONSE
von Olivia Axel Scheucher und Nick Romeo Reimann
Regie: Olivia Axel Scheucher
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspielhaus Bochum
Baroque
von Lies Pauwels
Regie: Lies Pauwels
Uraufführung
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
no shame in hope (eine Jogginghose ist ja kein Schicksal) von Svealena Kutschke
14:30 Uhr
Va†erzunge von Miriam Unterthiner
16:00 Uhr
Dann mach doch Limonade, Bitch von Kim de l’Horizon
Gastspiel Theater Dortmund
Über Leben
oder ἀτλαντὶς νῆσος. oder näher, mein gott, zu dir.
oder alles war für immer bis es aufhörte
von Annalena Küspert und Konstantin Küspert
Regie: Ruven Bircks
Nominiert für den Nachspielpreis
Amtsstübl im Verein Alt Heidelberg
Institut für Kontrolle und Exzess
saufen fechten heidelberg
Eine Theaterperformance zum Thema Studentenverbindungen und Burschenschaften
Rahmenprogramm
=>Tickets
Zwinger 3
Gastspiel Berliner Ensemble
ROT. Die Outtakes des Fabian Michael Möntges
Film von Clemens J. Setz
Regie: Kristina Seebruch
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Wir sind nach dem Sturm
von Kevin Rittberger
Regie: Marie Bues
Uraufführung
Maguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Aus dem Leben
von Brigitte Venator und Karin Beier
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Junges Ensemble Stuttgart
Oma Monika
Was war? 8+
von Milan Gather
Regie: Milan Gather
Mülheimer Kinderstückepreis 2022
Zwinger 1
Gastspiel Staatsschauspiel Dresden
Die Katze Eleonore
von Caren Jeß
Regie: Simon Werdelis
Uraufführung
Sprechzimmer
Gastspiel Theater im Marienbad Freiburg
What The Body?! 13+
Stückentwicklung von Lisa Bräuniger, Anne Wittmiß und Anna Fritsch
Regie: Anne Wittmiß
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Staatstheater Darmstadt
Drei Kameradinnen 14+
von Shida Bazyar, Fassung von Golda Barton
Regie: Isabelle Redfern
Nominiert für den Jugendstückepreis
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel Schauspiel Essen
Die Wand (360°)
Film nach dem Roman von Marlen Haushofer
VR-Fassung von Thomas Krupa
Vorstellungen um 11:Uhr, 13:30 Uhr, 18:30 Uhr
Dauer: jeweils ca. 1 Stunde
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Burgtheater Wien
Adern
von Lisa Wentz
Regie: David Bösch
Uraufführung
Zwinger 1 + 3
Gastspiel Theaterakademie Hamburg in Kooperation mit Junges Schauspielhaus Hamburg
Out There 13+
von Stanislava Jević
Regie: Dominique Enz
Nominiert für den Jugendstückepreis
Alter Saal
Gastspiel Theater Basel
Wie alles endet
von Manuela Infante
Regie: Manuela Infante
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Frankfurt
Die letzte Geschichte der Menschheit
von Sören Hornung
Regie: Leon Bornemann
Nominiert für den Nachspielpreis
Marguerre Saal
Philharmonisches Orchester Heidelberg
Konzert
Sonderprogramm mit Musik aus Schweden und Finnland
Rahmenprogramm
Zwinger 3
Gastspiel OutOfTheBox in Kooperation mit LOT-Theater Braunschweig
In Ghosts We Trust
von Susanne Schuster und Ricardo Gehn
Dauer: jeweils 1 Stunde
Zeitslots:
10:00 /11:30 /
13:00/ 14:30 /
16:00/ 17:30 /
19:00/ 20:30
Alter Saal
Gastspiel Schauspiel Leipzig
zwei herren von real madrid
von Leo Meier
Regie: Albrecht Schroeder
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Schweden
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Leichenschmaus von Alejandro Leiva Wenger
14:30 Uhr Girls will make you blush von Åsa Lindholm
16:00 Uhr Hierarchy of Needs von Adel Darwish
Zwinger 1
Gastspiel Deutsches Theater Berlin
Das Augenlied ist ein Muskel
von Alexander Stutz
Regie: Jorinde Dröse
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Dramaten in Kooperation mit Lumor Teater Stockholm
Ambulanz
von Paula Stenström Öhman
Regie: Paula Stenström Öhman
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Schweden
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Alter Saal
Gastspiel Backa Teater Göteborg
Glücklich bis ans Ende unserer Tage [10+]
Lyckliga i alla våra dagar
von Emma Palmkvist
Regie: Lars Melin
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Orionteatern Stockholm in Kooperation mit Riksteatern
… Anna Karenina
Det har aldrig funnits en kvinna som Anna Karenina
von Tone Schunnesson
Regie: Ragna Wei
Schwedisch mit deutschen Übertiteln
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
.