Schaut mich an! 

Die Freundin ist gestorben, in ihren Jugendjahren, die doch ohnehin so turbulent sind. Schule, Schwesternschaft und Scham im Schwimmbad, die erste Periode, Masturbation – so viel zu verarbeiten und zu entdecken. In "Blaupause", das 2023 den Autor*innenpreis erhielt, entwirft Leonie Lorena Wyss das schmerzhaft zärtliche Porträt einer jungen queeren Frau auf Selbstsuche.

Von Elena Philipp

27. April 2024. "Blau ist verschwunden": Die Welt der Ich-Erzählerin hat ihre Farbe verloren, die Farbe der Verbindung mit ihrer ersten großen Liebe. Du "wolltest noch achtzehn werden aber dann / kurz vor deinem Geburtstag / <wir verabschieden uns von>", heißt es so lapidar wie abgrundtief traurig in dem dichten Theatertext mit seinen fragmentarischen, aber alles Wesentliche enthaltenden Sätzen.

"Blaupause" von Leonie Lorena Wyss © Susanne Reichardt

"Blaupause", mit dem Leonie Lorena Wyss den letztjährigen Autor*innenpreis beim 40. Heidelberger Stückemarkt gewonnen hat, ist eine Erinnerungsreise in die kurze, aber prägende Vergangenheit der namenlosen Protagonistin. Trauerbewältigung. Und eine Reise zum Selbst.

Vorgesehene Rollenmodelle

Strukturiert wird der Text vom jährlichen Familientreffen. Das Quintett von Schauspieler*innen absolviert in Hannah Frauenraths Uraufführung die verhasste Zeremonie mit Küsschen rechts, Küsschen links und und dem angewiderten Schreckgesicht der von ihren Verwandten überfallenen Teenagerin: "<wie geht’s> / links / <dir?> / rechts / <und was macht> / links / <das Leben> / rechts / <der Freund> / links". Esra Schreier wird begrapscht, ihr "lang" gewordener Leib bewundert und dabei übergriffig in alle Richtungen auseinander gezerrt. Grienen der Geschlechtsgenossinnen.

Wie jedes Jahr bewerten Tante Eva und die 13 Cousinen an einem Nachmittag das Leben der Ich-Erzählerin: Schon einen Freund? "<bei euch dauert das ja alles länger wir schon viel früher / weißt du noch> / zu meiner Mutter / <auf dem Heudach damals", hechelt Tante Eva ihre Standards von Normsexualität herunter. Dabei weiß das Ich des Textes noch gar nicht, ob es auf einen der "Sebastians" steht, die als generische Mitschüler, potenzielle Love Interests oder Tinder-Bekanntschaften in Wyss’ Text die weiblichen Körper begaffen, betatschen, bewerten.

Dynamische Spielszenen

Als der erste Sebastian, Freund der coolen Cousine Tanja, auftritt, nimmt der Live-Musiker und Performer Jeremy Heiß als einzige männlich lesbare Person im Cast nach kurzer Verwirrung ob seiner Sonderrolle die Posen ein, die von richtigen Männern erwartet werden: Bizeps beugen, lässiges Victory-Zeichen, Kiefermuskeln anspannen und den Kopf cute schräg legen wie ein K-Pop-Star. TikTok-tauglich. Passt.

Rosarote Rollenklischees: Katharina Ley, Julia Staufer, Esra Schreier, Jeremy Heiß, Katharina Uhland  © Susanne Reichardt

Bestürzend komisch verdeutlichen die Szenen, die Hannah Frauenrath für die Uraufführung von Wyss’ Text mit dem Ensemble gebaut hat, die steten gesellschaftlichen Versuche der Vereinnahmung für vorgesehene Rollenmodelle. Kaum ihrer Kinderkleidung entwachsen – alle Spieler*innen tragen einheitlich fliederfarbene Jumpsuits, kurzhosig mit hohen weißen Socken in Badesandalen –, wird die Protagonistin mit dem Geheimnisvollen, Anziehenden, Erregenden, Abstoßenden konfrontiert, das Sexualität in ihrem Umfeld darstellt. Vielsagende Blicke, Grüppchenbildung, Getuschel, und eine der Spielerinnen bleibt außen vor. Text nach vorn, die Körper in Bewegung: Wie verloren ist man als junge Person, die ihren Platz sucht, aber nicht dabei sein darf. Die dynamischen Spielszenen fokussieren zunehmend auf das Quartett der weiblichen Spieler:innen – Sebastians haben nichts mehr zu melden.

Toller Text, stimmige Inszenierung

Cousine Tanja, trotz durchweg fließender Rollenwechsel oft mit schnodderiger Direktheit von Katharina Uhland gespielt, ist der Protagonistin Vorbild, Mentorin und Wegweisende: Weiß schon von "dem anderen", als die Jüngeren die Kondome an der Supermarktkasse noch für Kaugummi halten. Empfiehlt dem Chor der Cousinen Abdellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe" über ein lesbisches Liebespaar. Und fragt die Ich-Erzählerin gerade heraus, ob sie nicht vielleicht auch eine "<Lesbe?>" sei. "ich schaue auf / meint sie / hat sie grade / die Cousinenköpfe neben mir am Tisch tiefer mit der Zunge in die Kräuter-Creme / EINE WIRKLICH GEFÄHRLICH - / Tanja schaut mich an / <und?>".

Inszenatorisch treffen Hanna Frauenrath und ihr Ensemble aus Gästen und aktuellen wie ehemaligen Heidelberger Schauspieler*innen präzise den Ton von Leonie Lorena Wyss’ Vorlage. Ungekürzt ist sie in der Uraufführung umgesetzt, und man merkt, wie sorgfältig "Blaupause" durchgearbeitet ist. Jedes Wort sitzt: die nur angedeuteten Dialoge, der Witz und die Schwere, die abrupten Themensprünge. Hoch ist das Tempo, und trotz der emotionalen Tiefe vermeidet Wyss zu viel potenziell unangenehme Gefühligkeit. Toller Text, in sich stimmige Inszenierung – ein gelungener Auftakt für den 41. Heidelberger Stückemarkt.

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Blaupause
von Leonie Lorena Wyss
Regie: Regie: Hannah Frauenrath, Bühne und Kostüme: Laura Immler, Musik: Jeremy Heiß, Dramaturgie: Maria Schneider, Theaterpädagogik: Mareike Schneider, Regieassistenz und Inspizienz: Corinna Reichle, Soufflage: Sara Eichhorn, Kostümassistenz: Isabella Häußler, Regiehospitanz: Helena Radeke.
Mit: Esra Schreier, Katharina Ley, Katharina Uhland, Julia Staufer, Live-Musiker: Jeremy Heiß, Der*die Autor*in (Toneinspielung): Nicole Averkamp
Uraufführung am 26. April 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 
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 zu  Leonie Lorena Wyss und ihrem Stück "Blaupause".