Autor:innenpreis
Leonie Ziem – Kind aus Seide
Judith liebt keine Menschen mehr. Von ihrem Erbe legt sie sich eine Eisdiele und einen Sexroboter zu: Eine Artificial Stupidity, klüger als die AI, mit frühkindlichen Traumata, vulgärer Sprache und einem eigenen Willen. Nach kurzer Zeit verlässt der Sexroboter Judith jedoch, und sie versinkt im Liebeskummer. Dabei wollte Judith doch allen zeigen, dass es sie sehr wohl gibt, die Liebe über die Speziesgrenzen hinweg, ganz gleich ob Lithium-Ionen oder rote Blutkörperchen, Siliziumfleisch oder Fettzellen! Doch darüber scheiden sich die Geister der protestierenden Öffentlichkeit. Zwischen Rechtfertigungsdruck und den eigenen Gefühlen verliert jedoch auch Judith irgendwann die Orientierung im verlockenden Überangebot der Digitalisierung.
Leonie Ziem, 1999 in Berlin geboren, studiert aktuell Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2023 erhielt Leonie Ziem das Startstipendium für Literatur der österreichischen Bundesregierung für die Arbeit an ihrem ersten Roman. In diesem Jahr ist sie eingeladen zum Treffen junger Autor:innen am Schauspiel Leipzig. Sie ist außerdem journalistisch tätig für Print und Radio, unter anderem für Deutschlandfunk Kultur
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Das Stückporträt: Kind aus Seide – Leonie Ziem
Von Jorinde Minna Markert
29. Februar 2024. Ein Milchmädchen und eine Eisverkäuferin, klingt nach swipe right, oder? Nach match made in heaven, wie heiße Himbeeren mit Vanille und Streusel auf Schlumpf. "Weißt du noch, wie du mich das erste mal gesehen hast?" "Ja, hinter eine Plexiglasscheibe im Elektronikfachgeschäft." Bei diesem ersten Blick hat sich die Eisverkäuferin wie die Schriftstellerin Maggie Nelson gefühlt, als diese im Museum vor einem Häufchen lapisblauen Pigments stand und ein stechendes Verlangen in ihr aufkam – ein Verlangen nach was? Befreien? Kaufen? Sich einverleiben? Anders gefragt – gibt es einen Ausdruck für Begehren jenseits von Konsumismus? Kann der paradoxe Wunsch, ein Objekt der Begierde möge unverfügbar und verfügbar zugleich sein, erfüllt werden?
Whatever, solche Fragen versickern im Teppich des Pärchen-Alltags. Man kann das ja so und so finden, wenn Leute ihre Girlfriends beruflich anstellen, aber das Milchmädchen sieht echt gut aus beim Putzen vom Eissalon König, anmutig und mit Schwung aus der Hüfte, ruft unermüdlich: "Bratapfeleis. Tartufoeis. Feigensorbet, Serranoschinkeneis."
Das erste Wort, ein Versprechen
Ein Passant:innenchor stört den pastellfarbenen Frieden der beiden immer wieder mit seltsamen Parolen: "Ihr Kryptobonzen, ihr E-schwanz-lutscher, ihr Cyberproleten, ihr Blecharschficker." Aber hey, solange sie ein Iced Something To Go kaufen. Die Eisverkäuferin ist nämlich eine, die aus Zitronen Limonade, aus Scheiße Gold etc., eine mit netten Eltern und Urvertrauen in die Welt, ein Kind, das zart wie Seide gepflegt wurde. And they lived happily ever after …
… until they didn’t. "Ich nehme das erste Wort eines Stücks ernst. Das erste Wort auf der Bühne gibt ein Versprechen, das es einzulösen gilt", sagt Leonie Ziem, Autorin von "Kind aus Seide". Das erste Wort, was hier fällt, ist kurz, politisch und politisiert und wurde 2016 ins Sexualstrafrecht aufgenommen. Es ist das Milchmädchen, die das Stück damit eröffnet:
MILCHMÄDCHEN
nein
das ist mein wichtigstes wort.
nein nein nein
das ist das rüstzeug meiner blechseele
Diese Fähigkeit zum Dissens ist eine technologische Neuerung. Denn das Milchmädchen ist ein Sexroboter (kann aber auch Steuererklärung und Staubsaugen und wird von braven Bürger:innen nur für diese Zwecke eingesetzt!). Die Produktlinie ist mit einer komplexeren Form maschinellen Geistes ausgestattet als künstliche Intelligenz. Statt rein algorithmenbasiert zu operieren, kann die Artificial Stupidity Umwege gehen, chaotisch also kreativ denken und eben die namensgebenden Milchmädchenrechnungen aufstellen. Und ihre Besitzer:innen verlassen:
MILCHMÄDCHEN
nicht, dass ich meine gefühle für dich nur zögernd als gefühle
beschreiben würde und nicht, dass ich nur aus einsamkeit bei dir
blieb, es ist nur, ich weiß vorzüglich mit mir allein umzugehen. In
gesellschaft hingegen empfinde ich die begegnung mit mir selbst als
mühsam.
weißt du?
Zum Trost: Es ist doch gutes Timing, sie haben noch keinen Bausparvertrag, keine Eltern kennen gelernt. "Du hast keine Eltern", kontert die Eisverkäuferin, die in Drucksituationen zu speziesistischer Unsensibilität neigt. Denn neben dem Nein ist ein biologisch-biografisches Narrativ der gehütetste Besitz des Milchmädchens: "Best Sex ever, meine Eltern hatten den best Sex ever, als sie mich zeugten."
Ob diese Backstory prä-installiert oder maschinell erlernt ist, bleibt offen. Objektive Biografie existiert ja ohnehin nicht, auch menschliche wird ständig neu konstruiert, ist also nicht essenziell unterscheidbar. Diese Uneindeutigkeit ist es, die Unbehagen verursacht. "Hybridformen sind losgelöst aus festgezurrten Ontologien", sagt Leonie Ziem. "Sie entziehen sich damit Diskursen von Reinheit und innerer Wahrheit." Der immer wieder auftretende, "ihr Blecharsch-Ficker"-rufende Chor der Passant:innen bringt dieses Unbehagen auf den Punkt. Vordergründig geht es um nicht nachwachsende Rohstoffe, eigentlich wohl um verdrängte Faszination, die sich zeigt, wenn Einzelne aus dem Chor sich an die Milchmädchen ranpirschen, weil sie schon immer mal mit so einer sprechen (und wer weiß was noch) wollten.
Eine interspeziesistische Liebe?
Es ist eine große Stärke von Leonie Ziems Text, sich ebenfalls Eindeutigkeit zu entziehen. Er ist damit selbst eine Art Theorie-Poesie-Hybrid und schlägt trotz Diskursivität nie ins Didaktische um. Theorie findet in der selben schönen und abstoßenden, groben und zarten Sprache statt, die diesem Text seine Oberfläche gibt, die man nicht ganz durchblicken kann und gerade deshalb so gerne betrachtet. Was könnte die Performativität von Gender besser verdeutlichen als ein "Mädchen"-Roboter? Und selten wurde Hannah Arendt schöner verdreht, als wenn eine heartbroken Eisverkäuferin beim Service von electric souls anruft und erklärt, dass Liebe genau wie das Wort "Haus" zwar immer ein nichtssagender Allgemeinplatz ist, zugleich aber in der persönlichen Imagination doch sofort für jede:n als ein spezifisches Haus Gestalt annimmt, dass das Haus also immer zugleich bedeutungslos und bedeutungsvoll ist und bestimmte Arten von Häusern aus kulturellen Haus-Normen ausgeschlossen sind, etwa die Zelte von Nomad:innen, und das Haus ist die Liebe zum Milchmädchen, verstehen Sie?
"Was sie da gerade fühlen, das ist völlig normal. Sie haben eine Bindungsverletzung erlebt", so der Service. "Ich muss ihnen jedoch mitteilen, dass sie unsere allgemeinen Geschäftsbedingungen unterschrieben haben." Das Element der Unverfügbarkeit müsse bei anthropomorphen Maschinen unbedingt erhalten bleiben. Unverfügbarkeit erlaubt uns, Menschen zu bleiben.
Das Milchmädchen kehrt schließlich ohne logische Begründung zur Eisverkäuferin zurück. Nur ist es jetzt nicht mehr ein, sondern zwei Milchmädchen. Dass die Eisverkäuferin die "echte" nicht von einer ihrer seriellen Produkt-Schwestern unterscheiden kann, ist für viele der Beweis einer unmöglichen interspeziesistischen Liebe. Für andere – genau genommen für eine Eisverkäuferin und zwei Milchmädchen, die nun zu dritt Serranoschinkeneis verkaufen – ist es der Beweis, dass es sowas wie ein echtes Milchmädchen, ein echtes Schiff von Theseus, ein universelles Haus nicht gibt.
Und wieder für ganz andere könnte es beweisen, dass dieses Stück, so originell, brüsk und lustig es auch künstliche Intelligenz/Dummheit verhandelt, diese am Ende vielleicht doch vor allem motivisch einsetzt, um ein anderes Thema zu umkreisen: Love.