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Julie Guigonis - Ghostbike
Die Nacht der Nächte könnte es werden. Rocky hat Geburtstag. Und alle kommen: Giorgios, der beste Freund von Rocky. Die Cousine von Rocky. Sogar Monika König von "Café König", die ehemalige Ausbilderin von Rocky. Und auch der LKW-Fahrer, der Rocky überfahren hat. Denn Rocky fehlt bei seiner Geburtstagsfeier. Er ist tödlich verunglückt, wo die Fahrradspur vom Bürgersteig auf die Straße führt und er sich im toten Winkel des rechtsabbiegenden LKW befand. Während auf der "Karrerabahn" sozialer Netzwerke die Schuldzuweisungen kursieren und politische Konsequenzen gefordert werden, begehen Cousine und Giorgios, Fahrer und König den Geburtstag von Rocky auf ihre Weise.
Julie Guigonis lebt zwischen Berlin, Halle und Südfrankreich, macht Sachen wie Theater, Journalismus oder Aktivismus und findet, es gibt bessere Dinge auf der Welt als Hochkultur. Sie verbringt ihre Zeit am liebsten im Radio, in den Bergen oder in einem Proberaum und ist Teil von Radio Corax und dem Theaterkollektiv Les Copines. Momentan ist sie mit dem Studium Szenisches Schreiben beschäftigt und arbeitet nebenher, um sich die teure Berliner Miete leisten zu können.
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Das Stückporträt: Ghostbike – Julie Guigonis
von Simone Kaempf
29. Februar 2024. Hunderte Menschen sterben jährlich bei Fahrradunfällen. Jeder Einzelne ist natürlich einer zu viel. Auch Rocky kam an einer Straßenkreuzung ums Leben, die Sache mit dem LKW, ein Sattelschlepper beim Rechtsabbiegen. Nun steht an der Kreuzung ein Fahrrad – das titelgebende Ghostbike ist Mahnmal und Warnung zugleich. "Das macht man überall auf der Welt. Und immer wenn ich hier vorbeikomme, dann denk ich an ihn. Und ich komm echt oft hier vorbei", sagt Rockys Cousine, seine beste Freundin von klein auf. Bestie könnte man sagen, wenn Julie Guigonis ihre Figuren nicht so herzzerreißend geerdet anlegen würde.
An der Kreuzung in einer ostdeutschen Stadt spielt "Ghostbike". Die, die sich hier treffen, tragen ihre Zungen locker, aber ihr Herz auf dem rechten Fleck. Der Unfall liegt längst zurück, aber Rockys Geburtstag führt eine Gruppe zusammen, für die das mit dem Unfall nicht besser geworden ist, sondern immer schlimmer, eine kleine eingeschworene Gemeinschaft: Die Café-Besitzerin König, Rockys frühere Chefin, deren Laden einfach nicht mehr läuft, Giorgos, der einstige enge Freund, der nicht mehr weiß, wohin er gehört, und Cousine, die sich seitdem vornimmt, den Kopf zu bewahren. Nicht nur Grabkerzen, auch Eimer, Pinsel, rote Farbe haben sie dabei. Um etwas zu verändern. Denn was, wenn eine Fahrradspur, so ihr magisches Denken, schon damals rot markiert gewesen wäre? König hat schon alles versucht: Briefe, Interviews, Beschwerden beim Verkehrsamt, mit Rockys Eltern ging sie vergebens zum Stadtrat.
Do-it-yourself auf der Straße
Das Geburtstagsfest entwickelt sich zur aktivistischen Nacht-und-Nebel-Aktion. Cousine, Giorgos und König greifen selber zum Pinsel und malern den Fahrradweg leuchtend rot, zur Hälfte zumindest, bis der erste Landpolizist auf Streife vorbeikommt, zufällig, aber so geraten die Ereignisse ins Rollen. Kein geübter Aktivismus der urbanen Art ist das, der mediale Aufmerksamkeit nutzt, Communitys mobilisiert oder gar im Querdenkertum landet. Sondern Trauerbewältigung und Do-it-yourself auf der Straße. Das Stück findet sein Streitpotential in der Behäbigkeit des Systems einerseits und im Veränderungswillen andererseits. Zorn hat sich aufgestaut, das ja, aber jenseits vorgelebter aktivistischer Muster findet sich hier ein eigener Weg für die Eskalation.
Julie Guigonis, 1992 geboren, nimmt in ihren Theatertexten immer wieder reale Ereignisse als Basis. Sie studiert seit zwei Jahren Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin, arbeitet journalistisch für das freie Radio Corax in Halle und ist Teil des Theaterkollektivs Les Copines. Als etwa 2018 in Marseille in der Rue d'Aubagne baufällige Häuser einstürzten und acht Menschen starben, war sie zufällig in der Gegend – Guigonis hat eine deutsch-französische Familiengeschichte. Über die Ereignisse, die folgten, die Immobilien-Spekulationen und Gentrifizierung, entstand eines ihrer ersten kollektiven Theaterprojekte. Für "Ghostbike" war ein Verkehrsunfall im engeren Bekanntenkreis der traurige Anlass. Um persönliche Aufarbeitung geht es jedoch nicht, ums Herauskämpfen aus der Erstarrung schon. Zu Träumern erhebt Guigonis ihre Underdogs, schenkt ihnen Dialogwitz und eine Komödie statt Tragödie.
Auf der Karrerabahn
In einem zweiten Erzählstrang öffnet sie aber noch eine zweite Welt: Die der Chat- und Internetforen mit Hatespeech, Vorurteilen und schnellen Meinungen. Wie schnell sich hier die Positionen erhitzen, breitet Guigonis richtig modellhaft und lustvoll aus. In einer Timeline suchen all die Pseudonyme, "Uschi", "Tom Platte", "anonym", "Radfuchs", "Allwetterradler", einen Schuldigen für den Unfall und traktieren sich mit Beleidigungen. Es sprechen die gefühllosen Zyniker ("Mal wieder ohne zu schauen, einfach so auf der Straße geradelt?"), die Tröster ("Seit dem Unfall fahre ich mit dem Rad dort nicht mehr lang. Den Angehörigen mein Beileid"), die sachlichen Aufklärer ("Auch eine Rotmarkierung hätte hier nichts genutzt. Sowohl für Rad als auch LKW-Fahrer ist diese Stelle zu eng zum Abbiegen"), jene, die Opfer zu Tätern machen ("Für mich sind die Radfahrer mitschuldig, wenn sie an der Kreuzung stehen und nicht bemerken, dass der LKW nach rechts abbiegen will") oder die, die den Unfall für ihre Agenda instrumentalisieren.
Mit "Karrerabahn" hat Guigonis diese Teile des Stücks überschrieben, in denen sie die Polarisierung der Gesellschaft spiegelt. Aber eben nur einen Teil der Gesellschaft. Viel versöhnlicher geht es an der Kreuzung zu. Der Fahrer des in den Unfall verwickelten LKW erscheint, gibt erst seine Identität und seine Schuldgefühle preis, und heckt dann mit König einen Rettungs-Plan für das Café aus. In bester Roadmovie-Manier fallen Schüsse, es kommt zu einer Flucht vor der Polizei, das Café geht in Flammen auf. Das klingt gewalttätiger, als es gemeint ist. Alle können hier auch Comic, samt der Pistole und dem Ghostbike, die mit den Augen zwinkern, ihre Größe verändern und sich mit friedliebendem Eigenleben einmischen.
Für die Umsetzung wünscht sich Guigonis, dass solche Szenen wild bleiben dürfen, und auch komisch. "Beim Schreiben der 'Karrerabahn'-Szenen hat mich Puppentheater beeinflusst. Mittlerweile wünsche ich mir einfach nur, dass das Stück nicht zu sehr gezähmt und geglättet wird, dass die Lust am Spielen bleibt, bei allem Ernst darin."
Ein Urknall
Die fatalistischen Fragen, wie man mit einem tödlichen Unfall umgeht, was getan werden müsste, um weitere zu verhindern, wie sich überhaupt etwas verändern kann, werden in "Ghostbike" sanft und komisch ummantelt. Daraus spricht die klare Haltung, dass mit Streit und Eskalation wenig getan ist. Und die Erkenntnis: Man ist selber immer Teil des Problems. Oder wie König es sagt: "Wir stehen nicht im Stau, wir sind der Stau."
An den Ohnmachtsgefühlen ändert diese Erkenntnis freilich wenig. König und der LKW-Fahrer machen dann doch Tabula rasa und lassen am Ende an der Kreuzung eine Bombe zünden. Mit großem Knall fliegt die Straße in die Luft und es öffnet sich eine andere Welt: "Wasser sprudelt, ein See entsteht, Blumen wachsen, Libellen fliegen. Fetzen von der Explosion schweben in der Luft, das Ghostbike steht seelenruhig am Ufer des Sees, es ist glücklich." Ein Urknall zurück an den Anfang der Schöpfung, ein Idyll.