Autor:innenpreis
Lars Werner - Die ersten hundert Tage
Eine abgelegene Shell-Tankstelle an der tschechischen Grenze zu Deutschland: Silvio ist der erste, der eintrifft. Er hatte dieses Treffen einberufen, mit Roya, Lou und Marin, doch sicher sein, ob sie sich blicken lassen würden, konnte er sich nicht. Noch vor zwei Jahren waren die vier beste Freund:innen. Das war, bevor man sich in Transitzonen treffen musste. Bevor Roya, Lou und Marin ins Exil gingen und in Deutschland eine rechtextremistische Regierung an die Macht kam. Bevor Roya für ihre journalistische Arbeit bedroht, Lous Gender-Studies-Lehrstuhl das Geld entzogen und Marin vorgeblich auf eine Liste für politisch Verdächtige gesetzt wurde. Silvio will nun die Hilfe der drei erbitten und ihnen im Gegenzug ein Angebot machen. Doch das Wiedersehen offenbart alte Konflikte und die tiefen politischen Gräben zwischen den Freund:innen. Mit dem Auftauchen eines Grenzpolizisten wird deutlich, dass Silvio sich weiter von seinen Freund:innen entfernt hat, als er zugibt.
Lars Werner (*1988 in Dresden) studierte Medienkunst in Leipzig und London sowie Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Von 2009 – 2012 co-leitete er die Kunsträume Goldener Buergersteig und nullunendlich in Leipzig. 2017 gründete Werner das Berliner Ringtheater und war bis 2023 Teil der kollektiven Leitung. 2018 erhielt er den Kleistförderpreis für sein Stück Weißer Raum, dass das Erstarken rechter Bewegungen thematisierte. Für den selben Text erhielt er 2019 das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste, Berlin. 2021 war er Stipendiat des Institut für Digitaldramatik am Nationaltheater Mannheim. Seine Stücke liefen u.a. am Theater Münster, Staatstheater Braunschweig und bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Seine Hörspiele laufen u.a. auf Deutschlandfunk Kultur, SWR und RBB. Im April 2023 ist sein Debütroman Zwischen den Dörfern auf Hundert im Albino-Verlag erschienen. Lars Werner lebt in Berlin.
.
Das Stückporträt: Die ersten hundert Tage – Lars Werner
Von Dorte Lena Eilers
29. Februar 2024. Bereits dieses Datum wird zum Menetekel. Februar ’24 – nach dieser Zeit werden uns sehnen. Starten tun wir etwas früher, in einem Hörsaal der hiesigen Uni. Die Erzählung – Aktualisieren! – rast im schnellen Newsflow-Modus voran.
Wir: Sind eine Gang und verzieren NPD-Büros mit brauner Farbe. Aktualisieren. Wir: Treffen uns bei einer Hochzeit in Apulien zum letzten Mal. Aktualisieren. Sie: Sitzen in Deutschland nun in etlichen politischen Ämtern. Aktualisieren. "Sie: Lassen einen Bundespräsidenten per Volkabstimmung wählen. Aktualisieren. Sie: Vergeben Prämien für das Gebären deutscher Kinder. Aktualisieren … Sie: Schließen die Flüchtlingsheime … Aktualisieren." Niemand: Ist mehr sicher.
In Lars Werners neuestem Stück "Die ersten hundert Tage", welches in diesem Jahr für den Autor:innen-Wettbewerb des Heidelberger Stückemarktes nominiert ist, erleben wir Deutschland im Schnelldurchlauf. Die Taktung unseres Medienkonsums bestimmt den Rhythmus der Erzählung – aktualisieren, aktualisieren, doch was ist hier passiert? Die Befürchtungen, die sich im Wahljahr 2024, also just gerade jetzt manifestieren, sind dystopische Gegenwart geworden. Eine radikale Partei – nur einmal wird im Stück die AfD explizit genannt – hat in Deutschland die Mehrheit errungen. Der große Umbau setzt sich in Gang. An den Unis werden Fächer wie die Gender Studys abgeschafft. Bürgerwehren patrouillieren, an den Grenzen entstehen Lager. Protestierende werden in Laster gepfercht und ins Nirgendwo verschleppt. Die Wohnungslosigkeit steigt, während das Einkommen der Menschen sinkt.
Manche Freunde werden besser. Andere nicht.
In diese Matrix verstrickt, trifft sich am Tag nach Weihnachten eine ehemalige Studienclique an einer einsamen Tankstelle in Tschechien nahe der bayerischen Grenze: Silvio, "ein weißer, deutscher Mann aus Frankfurt", Roya, "eine deutsche Frau of Color aus der Nähe Frankfurts", Marin, "ein weißer Mann …, vielleicht aus Köln", und Lou, "eine Gender-non-conforming Wissenschaftler*in und Aktivist*in aus Tschechien". Einst saßen sie gemeinsam auf der letzten Bank eines Hörsaals der Uni Heidelberg, zogen durch die Stadt, um gegen Nazis zu protestieren – nun leben drei von ihnen im Exil. Nur drei? Tatsächlich: Silvio, der die anderen zu dem Treffen an der Tanke überredet hatte, kommt aus Deutschland angebraust. Dickes Auto, dickes Konto, dicke Hose. Kein Wunder, dass die anderen misstrauisch sind. "Manche Freunde", denkt Marin im Stillen, "werden im Rückblick besser. Pause. Andere nicht."
Der gebürtige Dresdner Lars Werner hat bereits in früheren Stücken ein feines Sensorium für die komplexe Gemengelage von Gesellschaften gezeigt, welche im Bann rechtspopulistischer und rechtsextremer Ideologien stehen. Dabei verwehrt er sich, ähnlich wie der aus der Oberlausitz stammende Autor Lukas Rietzschel, dessen Stück "Das beispielhafte Leben des Samuel W." über einen AfD-Bürgermeisterkandidaten kürzlich in Zittau zur Uraufführung kam, AfD-Sympathisanten als menschliche Sonderfälle darzustellen. In der Jurybegründung des Kleist-Förderpreises, den Werner 2018 mit seinem Stück "Weißer Raum" gewann, hieß es: "Lars Werner ist ganz nah ran gegangen an die ganz anderen." Das aber ist nicht korrekt formuliert. Es sind, wie Werner zeigt, nicht die "ganz anderen", die rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien wählen; die Straftaten begehen; die Menschen mit Migrationsgeschichte ausweisen wollen. Es sind Anwälte, Ärztinnen, Verkäufer, Lehrerinnen, Postboten. Oder eben: alte Freunde.
Wir waren uns so sicher
"Die ersten hundert Tage" wechselt im Gegensatz zu "Weißer Raum", im Gegensatz auch zu Werners Debütroman "Zwischen den Dörfern auf hundert", der von einer Kindheit zwischen Punks und Neonazis erzählt, dabei Zeit und Perspektive. Das Stück thematisiert weniger die politische Radikalisierung des Mitläufers Silvio in einer noch wandlungsfähigen Vor-Umbruch-Situation – seinen ideologischen Umschwung skizziert Werner in Relativierungen ("Und zu guter Letzt: Roya … Laut ihr ist es fünf Minuten vor 4. Reich") und transfeindlichen Kommentaren lediglich an. Vielmehr geht es in dem Stück um die Situation der Menschen im Exil, nachdem das politische Ringen im Grunde verloren ist. Vor allem Roya, die Journalistin, und Lou versuchen aus Tschechien heraus ihren Kampf für demokratische Werte, für eine offene und vielfältige Gesellschaft fortzuführen. Obwohl sie bereits auf etlichen "Listen" stehen, veröffentlicht Roya regierungskritische Artikel in den Sozialen Medien, betreut Lou Trans-Jugendliche über Zoom.
Eine Zeitlang fragt man sich auf der Ebene der narrativen Konstruktion in der Tat, warum sich diese Figuren innerlich so wenig bewegen. Royas und Lous Positionen sind von Anfang an klar – was dramaturgisch in der Regel wenig Spielraum lässt. Bei Lars Werner indes liegt darin die konsequente Entscheidung für ein notwendiges literarisches Verfahren. Der Kipppunkt wird lange hinausgezögert – und wirkt dadurch umso erschütternder. Im Stil der Werner’schen Metrik würde man sagen: Wir sind uns so sicher. Aktualisieren. Waren uns sicher …
Für jeden Millimeter Zukunft
Lars Werner zeichnet in "Die ersten hundert Tage" demnach keine Genese des Rechtsrucks. Er zeigt, wie nach diesen ersten hundert Tagen schlicht der Alltag einkehrt. "Du wirst dir sagen", sinniert Roya in einem inneren Dialog mit Lou, "dass der Kampf für die Zukunft vor allem bedeutet, beharrlich an einer feindlichen Wirklichkeit zu zerren. Nur um sie einen Millimeter in eine gerechtere Richtung zu ziehen. Du wirst dir sagen, dass überall Menschen daran ziehen, und wenn sie es nicht mehr tun würden, dann würde alles kaputt gehen. Und für jeden Millimeter Zukunft muss man durch tausende Meter Dreck und schmutzige Deals."
Dem Stück hat Lars Werner ein Zitat aus Roberto Bolaños Roman "Die wilden Detektive" vorangestellt: "Wir bewegten uns … und bewegten uns … wir machten, was wir konnten … aber es kam nichts Rechtes dabei heraus." Bolaño beschreibt an dieser Stelle liebevoll-melancholisch die ästhetischen Weltfluchten einer einstmals gesellschaftlich interventionistischen Avantgarde-Kunst. Doch wer darin das Ende aller Kunst vermutet, der irrt. Bei Bolaño gibt es immer ein klappriges Auto, welches die Poesie sicher durch die Wüste bringt. Und auch bei Lars Werner klingelt am Ende ein Telefon.