Zeig mir deine Verletzlichkeit

1. Mai 2024. Wenn ein Ukrainer und ein Russe in Kriegszeiten gemeinsam auf einer Bühne stehen, sind Spannungen zu erwarten. Polina Solotowizki und ihren beiden Performern gelingt es in "Frontstage", den Konflikt zu thematisieren, ohne ihm anheim zu fallen – und ohne ihn zu verharmlosen.

Von Elena Philipp

"Frontstage" von Polina Solotowizki. © Ben Zurbriggen

Männlich, das hieße jetzt: an der Front kämpfen; zur Armee gehen; mindestens protestieren. Aber Bogdan und Ivan haben Angst. Angst zu sterben, wie so viele ukrainische Männer, Angst, verhaftet zu werden wie russische Demonstrierende. Also haben sie ihr Heimatland verlassen. Und stehen jetzt in "Frontstage" beim Heidelberger Stückemarkt auf der Bühne des Zwinger 3. Ganz nah am Publikum, in dem etliche Ukrainer:innen sitzen, denen die emotionale Bewegtheit anzumerken ist. Ein Ukrainer und ein Russe, in Kriegszeiten gemeinsam in einer Theaterproduktion – das ist mindestens ungewöhnlich. Was ist hier die Situation?

Zwei Stühle, zwei Videokameras, eine Leinwand. Bogdan und Ivan nehmen Platz. Kein Blick zueinander, sondern in die jeweilige Kamera, die eineinhalb Meter vor ihnen steht. Der projizierte Text verortet die beiden in einem Casting Call. Gesucht wird ein athletischer Mann zwischen 20 und 30 aus Osteuropa. "Rolle: Der HELD."

Aus dem Off stellt die Regisseurin Polina Solotowizki, deren Abschlussarbeit an der Hochschule der Künste Bern "Frontstage" ist, die Fragen. Name, Alter, Herkunft. Bogdan Kapon ist 20 Jahre alt, aus Charkiw, studiert Regie und Schauspiel. Direkter Blick, charismatisch. Ivan Borisov, der sich schüchterner gibt, ist 27, Schauspieler von Beruf und aus Sibirien – "das ist Russland", setzt er so ehrlich wie sich rechtfertigend hinzu. Ivan spricht Russisch, was Polina Solotowizki, genau wie Bogdans Worte, wenn er auf Ukrainisch statt Englisch antwortet, simultan dolmetscht. Berufserfahrung, Lieblingsrollen, Hobbys – das bewegt sich im Rahmen eines gängigen Vorsprechens. Beide können beatboxen, also müssen sie eine Kostprobe geben. Sie dürfen um die Regisseurin wie ums Publikum werben, wenn sie ihre Superkraft beschreiben. Optimismus, antwortet Bogdan. Kochen, sagt Ivan.

Sind sie mutig? Manchmal

Waren die Fragen bislang harmlos, wendet Polina Solotowizki ihre dramaturgisch stimmig gebaute Performance jetzt zunehmend auf den ukrainisch-russischen Konflikt. Atmosphärisch war er von Beginn an bestimmend, jetzt könnte er auf der Bühne stellvertretend ausgetragen werden.

Wovor sie Angst haben? Vor dem Tod, sagt Bogdan. Sind sie mutig? Manchmal, denn mutig sein bedeutet, die Angst zu überwinden. Ob sie Patrioten sind? Ja, antwortet Bogdan aus voller Brust. "Ich mag das Wort nicht mehr", druckst Ivan herum. Klar, wäre er glühender Nationalist, würde Bogdan nicht mit ihm auf einer Bühne stehen. Jetzt direkter Wettbewerb, körperliche Aufgaben. Liegestützen-Contest, so tun, als würden sie mit einer Handfeuerwaffe in die Kamera schießen. Die Schlussszene aus dem Film "Braveheart" sollen sie nachspielen, dafür eine Ritterrüstung anlegen; Hockeyschutz ergänzt die Rüstungsteile, die Plastik-Metallplatten an den Füßen sind an Badeschlappen geklebt – nicht sehr heldisch. Aber, für die Kamera, im Wechsel: Gefolterter Widerstandskämpfer, der trotz unerträglicher Schmerzen nicht um Gnade fleht, sondern "Freiheit" schreit. Hochrot werden die Gesichter von Bogdan und Ivan, wenn sie sich zur emotionalisierenden Filmmusik richtig ins Zeug legen.

HKB Frontstage 409 c Ben Zurbriggen Kopie"Wir verdienen zusammen am Hass und spenden für das Gute", beschließen Bogdan und Ivan. © Ben Zurbriggen

Und dann explodiert der schwelende Konflikt: "Du hast kein Recht, 'Freiheit' auf Russisch zu rufen!", rastet Bogdan auf Ukrainisch aus. "Warum? Freiheit bedeutet für mich das Gleiche wie für dich Sieg", entgegnet Ivan, der verhaltener in den verbalen Schlagabtausch geht. Respekt für die ukrainische Sache liegt in der Luft, eine Sensibilität, die Voraussetzung für ein politisch heikles Projekt wie dieses ist. Das viel weiter geht als die vielen Theaterprojekte, die sich an der zweiten Frontlinie im künstlerischen Kampf verorten und nicht selten propagandistisch auf die ukrainische Sache aufmerksam machen. Hier immer beide Perspektiven im Blick zu haben und beiden Raum zu geben, ohne die ukrainische Position zu verraten, ist ein Verdienst von "Frontstage".

Bogdan und Ivan finden einen Weg der performativen Einigung: Ivan schlägt vor, sich mit einem Pappschild an den Hauptbahnhof zu stellen, "Ich bin Russisch", schreibt er darauf. Bogdan entspannt sich, malt sich das entsprechende Schild, lächelt. "I am Ukrainian" und: "Punch 10 €, Hug 1 €." Zuschlagen ist teurer als eine Umarmung – "wir verdienen zusammen am Hass und spenden für das Gute", ist Bogdans Idee. Zwischen den beiden wird erstmals eine gewisse emotionale Wärme spürbar, die zuvor fehlte. Ein kleiner Funken Hoffnung auf Versöhnung in der Zukunft.

Emotional verstehen, was auf dem Spiel steht

In "Frontstage" stehen, stellvertretend für zwei im Krieg befindliche Nationen, zwei Menschen mit einer je eigenen komplexen Geschichte auf der Bühne. Und mit einer Männlichkeit, die in der Rolle des ungebrochenen, eindeutigen HELDEN nicht aufgeht – wie das so ist im echten Leben.

Ivan traute sich nicht, gegen den Krieg zu demonstrieren, und verließ Russland, um zu seiner Frau in die Schweiz zu ziehen – verheiratet ist er mit der Regisseurin, sie haben eine kleine Tochter, erzählt er, während er eine Schürze anlegt. Er bleibe mit der Kleinen zuhause, kümmere sich um den Haushalt, während seine Frau das Geld verdiene. Hase spielt er mit der Tochter – mit einer Kinderstrumpfhose als Hasenohren auf dem Kopf. Das hat mit martialischer Männlichkeit nun wirklich nichts mehr zu tun. Vielmehr wird hier eine Alternative ansichtig: Männer, die sich gegen Stereotype verwehren und auf offener Bühne ihre weiche Seite performen. Als Bogdan, der mit Kriegsbeginn volljährig wurde, erzählt, wie er über die polnische Grenze auszureisen versuchte, setzt er sich vorgeblich die Mütze auf, die er damals, vor zwei Jahren, trug. Eine Kinderkopfbedeckung, mit Augen auf der Kappe und langen Schal-Ohren. Der 20-Jährige, der in etlichen Szenen wie die Filmhelden seiner Kindheit mit den Kiefermuskeln mahlte, wirkt unendlich jung und verletzlich.

Kein:e Ukrainer:in, kein:e Russ:in kann sich diesem Krieg entziehen. Auf jedes einzelne Leben in den beiden Ländern und darüber hinaus hat er Auswirkungen. In "Frontstage" wird die globale Tragweite der politischen Verwerfungen erschütternd offenbar. Jede:r einflussreiche Politiker:in müsste diesen Abend sehen, um emotional zu verstehen, was auf dem Spiel steht – und wie man Versöhnung versuchen kann: Indem man Menschen einander begegnen lässt.

Zurück zur Übersicht

 

Frontstage
Von Polina Solotowizki
Regie: Polina Solotowizki, Kostüme: Dustin Kenel, Dramaturgische Beratung: Bene Greiner,
Technische Unterstützung: Malte Homfeldt, Mentorat: Lola Arias.
Mit: Ivan Borisov, Bogdan Kapon.
Entstanden im Rahmen des Masterstudiengangs Expanded Theater der Hochschule der Künste Bern
Uraufführung am 25. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

https://www.polinasolotowizki.com/frontstage