Medea, Prinzessin aus Georgien

Kolchis, das Land aus dem Medea stammt, liegt an der Schwarzmeerküste und heute auf georgischem Gebiet. Diese Zugehörigkeit zur Welt der Antike, auf der das europäische Selbstbewußtsein gründet, macht diese Figur heute auch für gegenwärtige politische Debatten in Georgien relevant. Am Royal District Theatre in Tblissi hat der Autor und Regisseur Paata Tsikolia eine ganz eigene Sicht auf Medea entwickelt.

von Verena Großkreutz

5. Mai 2024. Beim Applaus zeigt das Ensemble Flagge: die georgische und die europäische. Wie die unzähligen Demonstrant:innen, die seit Wochen in der georgischen Hauptstadt Tblissi gegen die russlandfreundliche Politik ihrer Regierung auf die Straßen gehen, sich Wasserwerfern, Pfefferspray, Gummigeschossen, Schlagstöcken entgegenstellen. Weil sie um die Zukunft ihres Landes fürchten, um Bürger:innenrechte, um freie Wahlen.

"Medea s01e06" von Paata Tsikolia © Juda Khatia Fsuturi

Der georgische Regisseur Paata Tsikolia erhebt das Wort. Zwei der Tänzerinnen wischen sich sichtlich ergriffen Tränen aus dem Gesicht. "Wir werden kämpfen für die Freiheit, für die Demokratie, für die europäischen Werte", ruft Tsikolia innerlich aufgewühlt, "und wir werden diesen Kampf gewinnen. Wir werden nie wieder Teil Russlands sein!" Herzlicher Applaus vom Publikum. Dort sitzt vermutlich niemand von jenen Deutschen, die die Werte, für die die Georgier:innen kämpfen wollen, nicht mehr zu schätzen wissen.

Was geschah, bevor Medea ihr Land verließ

"Medea s01e06" (für Season 1, Episode 6), mit dem das Royal District Theatre aus Tblissi an diesem Abend zu Gast ist im Alten Saal des Heidelberger Theaters, hat Paata Tsikolia nicht nur inszeniert, sondern auch geschrieben. Es ist ein Stück für drei Schauspieler:innen und einen stummen Chor. Und es stellt eine sehr eigene Beschäftigung mit dem griechischen Medea-Mythos dar. Medea stammt aus dem Reich Kolchis an der Schwarzmeerküste, heute Georgien.

Im Fokus der Inszenierung steht deshalb nicht der durch Euripides so berühmt gewordene letzte Teil des Mythos, der von Medeas Exil im griechischen Korinth, dem Verrat durch den Geliebten Jason und Medeas Rachemord an den gemeinsamen Kindern erzählt – und sie aus westeuropäischer Sicht zur Fremden macht. Sondern Tsikolia widmet sich dem, was in Kolchis geschah, bevor Medea aus Liebe zum Griechen Jason ihre Heimat und ihre Familie verriet und ihren Bruder ermordete. Er erzählt aus georgischer Sicht: die Geschichte der kolchischen Prinzessin, der Tochter von König Aietes.

Egozentrisch, machtgeil, zerstörerisch

In Georgien gilt Medea als eine Schlüsselfigur, "die das postsowjetische Land an die aus der Antike sich ableitenden Kultur des Westens andockt", wie Esther Slevogt in ihrem "Theaterbrief aus Georgien" auf nachtkritik.de schreibt. Und dieser identitätsstiftenden Funktion Medeas verweigert sich Tsikolia. Aus verständlichen Gründen. Medea ist ein extrem negativer Charakter: egozentrisch, machtgeil, zerstörerisch, mörderisch. Und dann verrät sie auch noch ihre Herkunft und geht in den Westen.

Medea2 3837 c Juda Khatia FsuturiMedea (Ekaterine Demetradze) und Bruder Absyrtus (Sandro Samkharadze) © Juda Khatia Fsuturi

Der Theaterabend umfasst elf Episoden, deren Überschriften auf den Bühnenhintergrund gebeamt werden, inklusive schwarzhumorig-animierter Piktogramme: Lange Frontalerzählungen (vor allem durch Gia Burdjanadze): von brutalen Massakern, Morden und Vergewaltigungen. Fragmente, blutig aufgeladene Varianten des Mythos. Dazwischen und währenddessen viel ausdrucksvolles, zeichenhaftes Tanztheater des "stummen Chors", vier Frauen in hautfarbenen Trikots, die körperlich kommentieren und abstrahieren.

"Würde ist Brainfuck!"

Medea (Ekaterine Demetradze), mit langen blonden Haaren, sitzt, steht, liegt oft passiv auf der Bühne. Erduldet noch ihren exzentrischen Bruder Absyrtus. Tsikolia gibt ihm viel, sehr viel Raum. Ihm, der Medeas Verrat ahnt, über sie spottet, ihre erotische Fixierung auf den Fremden – Jason, auf der Jagd nach dem goldenen Vlies − bemerkt. Es entbrennt ein Machtkampf um Kolchis.

Die wirbeligen, aggressiven Auftritte von Sandro Samkharadze als Absyrtus in knallrotem Anzug sind die spektakulären Höhepunkte der Inszenierung: Performances, in denen er in kindisch-hysterische Schreiattacken verfällt, in blinder Wut auf Gegenstände einschlägt, mit dem Boden kopuliert, das Publikum angeht und beleidigt ("Are you masturbating?"), es auffordert zu rufen "Medea ist eine Schlampe!". Einer von heute, der ständig am Selfiemachen ist, auch "mit unseren toten Jungs". Ein junger Mann ohne Impulskontrolle ("Würde ist Brainfuck"), obzön, nervig und grenzüberschreitend.

In welcher Mythos-Version auch immer: So oder so nimmt die Geschichte ein trauriges Ende. Tsikolia entschied sich für das krasseste: In Episode elf, dem Finale, lässt Medea hören, wie sie ihren Bruder ermordete, zerstückelte und ins Meer warf – auf Jasons "Argo" in Richtung Griechenland.

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Medea s01e06
von Paata Tsikolia
Georgisch mit deutschen Übertiteln
Regie: Paata Tsikolia, Bühne und Kostüme: Ira Shengelia, Choreografie: Natia Chikvaidze, Musik: Tamar Putkaradse, Animation: Iva Kimeridze.
Mit: Gia Burdjanadze, Ekaterine Demetradze, Sandro Samkharadze, Tanz: Natia Chikvaidze, Tamar Chkheidze, Anna Gumeniuk, Valeria Khripatch, Sopio Natchkebia, Teona Tsitsakishvili.
Premiere: September 2020
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Gastspiel des Royal District Theatre Tbilissi & Georgian Regional Theaters Network

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