Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg – ANTHROPOLIS II : Laios
Dämon, Dibbuk, Dschinn
Roland Schimmelpfennig hat für Karin Beier und das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg mit der Serie ANTHROPOLIS I-IV antike Mythen überschrieben. In Teil II "Laios" über den Vater des Ödipus schöpfte er sehr frei aus den antiken Quellen. Außerdem am Start: Lina Beckmann als kongeniale Interpretin des Texts.
von Georg Kasch
6. Mai 2024. Das Schöne an Festivals sind ihre inneren Dramaturgien. Vor wenigen Tagen gab's Thomas Köcks aktualisierte "Ödipus"-Variante. Jetzt also ist dessen Vater Laios dran, dessen Schicksal dem bekannteren des Sohnes gar nicht so unähnlich ist: als Kind ausgesetzt, als junger Erwachsener an die Macht gekommen, früh mit einem vernichtenden Orakel konfrontiert. Er missachtet den Spruch, zeugt einen Sohn, setzt ihn aus, gefesselt, mit durchbohrten Füßen. Dennoch wird er ihn später erschlagen. Das Orakel irrt nicht.
Dass mit "Laios" der zweite Teil von Roland Schimmelpfennings "Anthropolis"-Serie zum Heidelberger Stückemarkt und zu den Theatertagen nach Mülheim eingeladen wurde, dürfte daran liegen, dass der Autor bei den anderen vier Abenden die antiken Vorlagen lediglich überschreibt. Hier aber hat er frei aus den antiken Quellen geschöpft. Denn über Laios, Urenkel des Theben-Gründers (und Europa-Bruders) Kadmos, Vater des Ödipus, Gatte der Iokaste, gibt es kein Drama, sondern eine Lücke in der Weltliteratur. Die füllt Schimmelpfennig, indem er in einer federnden, aber grundsätzlich nüchternen Sprache viele Quellen-Varianten in Erwägung zieht, sie ausmalt, verwirft – und einen dabei durchaus in den emotionalen Schleudergang schickt. Etwa wenn er eben noch die Beziehung zwischen Laios und Chrysippos als glühende Liebesgeschichte zeichnet, dem aber auch die Möglichkeit einer Kindesentführung samt sexuellem Missbrauch entgegenstellt.
Sphinx-Moment im edelsteinprunkenden Kleid
Was macht Lina Beckmann daraus? Ein Theaterwunder! Sie malt nicht nur die glühende Liebe der beiden jungen Männer zueinander aus. Sondern auch die Reaktionen der Thebaner auf das ungleiche Paar, die erstaunten, abschätzigen und die "Das kann ja was werden"-Blicke. Und dann, da glüht man förmlich wegen der vibrierenden Leidenschaft der beiden, die sie ins Publikum schickt, knipst sie dieses Leuchten aus, setzt sich hin, zündet eine Zigarette an und spielt die Missbrauchs- und Raub-Variante durch. Sofort sinkt die Temperatur ins Bodenlose.
Sie bräuchte vermutlich diese Bühne nicht, die Johannes Schütz als Hallraum des Labdakiden-Schicksals gebaut hat: düstere Zeichen an den Wänden, ein langer Steg, der den Raum in ein Hinten und ein Vorne trennt, etliche Kreideziegel, ein liegender Stier, Masken mit schreienden Mündern (fürs Volk). Sie bräuchte vielleicht nicht mal Wicke Naujoks‘ Kostüme, wiewohl ihr Sphinx-Moment im edelsteinprunkenden Kleid schon ein Hingucker ist. Oder Voxi Bärenklaus Videos von der glücklichen Laios-Gesellschaft am Flussufer. Aber sie bräuchte dieses Stück, das von Macht und ihre Korrumpierbarkeit erzählt, von Liebe, Angst und Hybris. "Macht ist Verantwortung", heißt es einmal, und da ist Schimmelpfennig nah an den antiken Kollegen.
Zugleich zeigt der Abend, wie viele Dimensionen, die sich bei der Lektüre allenfalls erahnen lassen, eine kluge, mutige Regie wie die Karin Beiers und eine Ausnahmeschauspielerin wie Beckmann rauskitzeln können. Als Conférencière des Abends hat Beckmann ihn lässig im Griff. Wir glauben ihr jede Silbe, jedes Räuspern, jeden Schweißtropfen.
Verwandlung von Papier in Sinnlichkeit
Übrigens braucht sie dafür auch ein Publikum, das sie mit hemmungsloser Kumpelhaftigkeit anspielt, einem Komödiantinnenwitz, der jederzeit in Ernst oder eine konkrete Rolle umschlagen kann, in Wahnsinn, Rausch, Gewalt. So zeigt Beckmann, was geschieht, wenn man die Macht-Verantwortung nicht zu tragen bereit ist – als Erzählerin wie in den Rollen, in die sie schlüpft, als wäre ein Dämon, Dibbuk, Dschinn in sie gefahren. Dann ändert sich plötzlich alles: Beckmann tanzt hüftschwingend zu Jazz, läuft dann lässig und breitschultrig über die Bühne, kreischt und krächzt, lacht gellend auf. Zwinkert uns eben noch zu – und zack, schon starrt da jemand ganz anderes aus denselben Augen.
Wo der Text zur Empathie mit allen wichtigen Protagonist:innen einlädt, ihre Perspektiven deutlich macht, die natürlich im Konflikt zueinander stehen, verwandelt Beckmann Papier in Sinnlichkeit. Wenn sie herzzerreißend das Schreien des nur wenige Stunden alten Ödipus imitiert, will man kaum fassen, wie jemand so ein hilfloses und zugleich ums Leben ringendes Kind aussetzen kann.
Am Ende begreift man, was es heißt, Mensch zu sein. Und das gehört vermutlich zum Vornehmsten, was Theater erreichen kann.
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Wicke Naujoks, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette Ter Meulen, Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Sybille Meier, Mitarbeit Bühne: Anna Wörl, Mitarbeit Kostüme: Teresa Heiß.
Mit: Lina Beckmann, im Film: Lina Beckmann, Goya Brunnert, Josefine Israel, Ernst Stötzner, Julia Wieninger, Michael Wittenborn
Uraufführung am 29. September 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
Die ersten hundert Tage von Lars Werner
14:30 Uhr
Brennendes Haus von Anaïs Clerc
16:00 Uhr
2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger von Frankfurter Hauptschule
Zwinger 1
Gastspiel Lichthoftheater Hamburg
JUDEN JUDEN JUDEN
von und mit Hamburger Jüd*innen und Texten von Simoné Goldschmidt-Lechner
Regie: Ron Zimmering und Dror Aloni
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Düsseldorfer Schauspielhaus
My Private Jesus
von Lea Ruckpaul
nach einer Idee von Eike Weinreich
Regie: Bernadette Sonnenbichler
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
präsentiert von Zwinger x
Rahmenprogramm
Eintritt frei
Zwinger 3 und online
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
Ghostbike von Julie Gurgonis
14:30 Uhr
DRUCK! von Arad Dabiri
16:00 Uhr
Kind aus Seide von Leonie Ziem
Gastspiel Theaterhaus Jena
Die Hundekotatacke
von Walter Bart, Hannah Baumann, Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfanenmüller, Anna K. Seidel / Wunderbaum
Regie: Walter Bart
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Schauspielhaus Wien
Die vielen Stimmen meines Bruders
Es Stück für an- und abwesende Körper
von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster
Regie: Marie Bues und Anouschka Trocker
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Theater Bielefeld
else (someone)
von Carina Sophie Eberle
Regie: Nadja Loschky
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Alter Saal
Gastspiel Junges Schauspiel – Düsseldorfer Schauspielhaus
Time to Shine
Tanz und Theaterspektakel von Takao Baba + Ensemble
Inszenierung für schwerhörige und taube Menschen
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Stuttgart
forecast:oedipus
von Thomas Köck
Regie: Stefan Pucher
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Expanded Theater | Hochschule der Künste, Bern
FRONTSTAGE
Männlichkeit zwischen Spiel und Krieg
von und mit Polina Solotowizki, Bogdan Kapon und Ivan Borisov
Regie: Polina Solotowizki
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Theater Konstanz
Tragödienbastard
von Ewe Benbenek
Regie: Emel Aydoğdu
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Fremd
von Michel Friedmann
Regie: Stefan Kimming
Uraufführung
Zwinger 3
Theater und Orchester Heidelberg
Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau 10+
sehr frei nach Hans-Christian Andersen von Roland Schimmelpfennig
Regie: Marcel Kohler
Mülheimer Kinderstückepreis 2023
Alter Saal
Gastspiel Theater Lübeck
BOMB
von Maya Arad Yasur
Regie: Sapir Heller
Zwinger 3
Gastspiel Turbo Pascal, Berlin
Common Things
von Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Regie: Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauburg München
Erik*a 15+
mit Texten von Theresa Seraphin
Regie: Daniel Pfluger und Lukas März
Alter Saal
Gastspiel Landestheater Linz
Fischer Fritz
Regie: David Bösch
Marguerre- Saal
Gastspiel Schaubühne Berlin
In Memory of Doris Bither
von Yana Thönnes
Regie: Yana Thönnes
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
mit Musik aus dem Gastland Georgien
Eintritt frei
Sprechzimmer
Gastspiel Laboratory of Perfoming Arts, Tblissi
Zwilinge
von Giorgi Maisuradze
Regie: Giorgi Maisuradze
Gergisch mit deutschen Übertiteln
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Georgien
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Der weiße Hund von Davit Khorbaladze
14:30 Uhr Terzett von Marita Liparteliani
16:00 Uhr Wer klopft von Alex Chigvinadze
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili und Masho Makshvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Alter Saal
Gastspiel Royal District Theatre, Tblissi
Medea s01e06
von Paata Tsikola
Regie: Paata Tsikola
Georgisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Georgien
u.a mit Gastland Kurator Davit Gabunia
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili, Masho Makshvili und Elene Matskhonashvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Zwinger 1
Gastspiel Georgian Regional Theatre Networks
Niko Nikoladze - Sergo Parajanov
von Elene Matskhonashvili, Tengiz Khukhia und Levan Khetaguri
Regie: Elene Matskhonashvili
Georgisch nmit deutschen Übertriteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Antropolis II: Laios
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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