Der eingebrannte Schmerz

2. Mai 2024. Keine "richtigen" Papiere, keine "richtige" Sprache? Michel Friedman schildert in "Fremd" das Schicksal eines im Land der Täter:innen aufwachsenden Kindes, welches nicht nur mit seinen Gefühlen, sondern auch mit den durch die Shoah traumatisierten Eltern ringt. Stephan Kimmig arbeitet am Schauspiel Hannover das Universelle migrantischer Erfahrungen heraus.

Von Georg Kasch

"Fremd" von Michel Friedman. © Katrin Ribbe

Wer einmal in Deutschland das zweifelhafte Vergnügen hatte, eine Ausländerbehörde besuchen zu müssen, weiß, dass es sich um einen Ort handelt, an dem Macht ausgeübt wird. Wer hingeht, weiß hoffentlich um seine Rechte, hat seine Papiere zusammen, findet den richtigen Mittelweg aus indifferenter Freundlichkeit und Bestimmtheit. Denn die Sachbearbeiter:innen, die Architektur, selbst die Mülleimer sagen: Du bist hier nicht willkommen, allenfalls geduldet. Du bist fremd.

Diese graue Betonwand, die da auf der Bühne steht mit ihren erst toten, dann mit draufprojizierten hässlichen Gardinen gefüllten Fenstern, muss zu einer Ausländerbehörde gehören, so trist, so abweisend ist sie mit ihrer langen Bank davor, auf die sie die Wartenden schiebt. Katja Haß, Meisterin der unbehausten Räume, hat mit ihr eine neue Unort-Scheußlichkeit geschaffen. Sie ist die einzige Kulisse in Michel Friedmans "Fremd", das Stephan Kimmig am Schauspiel Hannover inszeniert hat.

Die Lebensaufgabe: "Eltern glücklich machen"

Friedmans Text, ohne Gattungsbezeichnung 2022 erschienen, könnte ebenso ein Langgedicht sein, ein eigenwilliger Roman oder ein Monolog. Insofern passt er im Zeitalter der Textblöcke wunderbar auf eine Bühne. Zumal er einen Rhythmus und eine Dringlichkeit besitzt, die vielen eigens fürs Theater geschaffenen Texten abgeht. Friedman schildert sein Leben mit den von der Shoah traumatisierten Eltern, erzählt vom Aufwachsen im Land der Täter:innen, vom Gefühl, überall Außenseiter zu sein, nie dazuzugehören. Wenn er doch einmal versucht, die Flügel auszubreiten und nach New York zu gehen, rufen die Eltern: "Willst du uns umbringen?" Also bleibt er. Lebensaufgabe: "Eltern glücklich machen. Eltern stolz machen."

Ein Schicksal, dass er mit anderen migrantischen Kindern teilt. Es gehört zu den vielen Stärken von Kimmigs Inszenierung, dass er das Allgemeine in Friedmans Text betont. Einmal heißt es da in Richtung der Täter:innen, Reinheitsfanatiker:innen, Otto-Normal-Nachbar:innen: "Fragt, wen ihr wollt, / welche Minderheit auch immer, / fragt sie nach dem eingebrannten Schmerz, den ihr verursacht / mit eurer hässlichen Unschuld. / Mit der Unschuld, / die ihr euch selber vorspielt, / die Einsamkeit hinterlässt, / die Narben hinterlässt, / die nie verheilen."

fremd 281 2cKatrin Ribbe KopieWarten, warten, warten – Menschen auf der langen Bank der Ausländerbehörde. © Katrin Ribbe

Auf der Bühne sieht das etwa so aus, dass neben Alban Mondschein auch Christine Grant in die Rolle des Kindes schlüpft, über das dann in der weiblichen dritten Person Singular gesprochen wird, als Mädchen also – weil die Erfahrungen des Fremdseins übertragbar sind. Die Situation, keine "richtigen" Papiere zu haben, eine "Ausländersprache" zu sprechen, die Grenzbeamte überhaupt nicht mögen, im Deutschland der 1970er Jahre zu leben, als Italiener "Spaghettifresser" genannt werden und "Türken nach Knoblauch stinken". Sich anzupassen mit aller Kraft, mehr zu leisten als alle anderen. Und dennoch: "Lebenslang ein Fremder."

Stella Hilb und Max Landgrebe schlüpfen zuweilen in die Rolle der Eltern, denen Friedman hier bei allem Schmerz eine berührende Liebeserklärung macht. Das ist kein Verkörpern, eher geht der Text durch die vier hindurch. Was es gibt: ein Zueinander-Sprechen, kleine, zärtliche Berührungen; einmal fassen sie einander bei den Händen. Dann wieder wagen sie Andeutungen einer Rolle, mit behutsamen Gesten und genauer Artikulation. Einmal singen sie mehrstimmig "Autumn Leaves", später ebenso sehnsüchtig Nina Simones "Be my husband".

Ist man jetzt angekommen?

Wie dem Buch gelingt es so dem Abend, vom Konkreten ins Allgemeine und zurück zu wechseln, Schmerz und Verzweiflung, Selbstbefragung und Gesellschaftsergründung heraufzubeschwören und bis zum Schluss nicht sicher zu sein: Ist man jetzt angekommen, bloß weil einem das Bundesverdienstkreuz an der Jacke baumelt? Oder bleibt man für immer fremd, weil man von genug Menschen nicht gewollt wird? Es gibt viele Momente, an denen man heulen möchte, weil sie so wahr sind, so ungerecht, so selbstzweifelnd. Am Ende aber bleibt: "Das Kind, es lebt." Auch, weil es "den Begrenzten und den Begrenzenden nicht das letzte Wort überlassen" will. Zum Glück.

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Fremd
von Michel Friedman
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Christian Decker, Video: Mirko Borscht, Dramaturgie: Elvin Ilhan.
Mit: Christine Grant, Stella Hilb, Max Landgrebe, Alban Mondschein.
Uraufführung am 1. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de