Gastspiel Schauspielhaus Wien – Die vielen Stimmen meines Bruders
Mühelos ins Leichte
Die Schriftstellerin Magdalena Schrefel hat die Geschichte ihres Bruders aufgeschrieben. Aufgrund einer seltenen Krankheit braucht er seit seiner Geburt einen Rollstuhl. Bald wird er seine Stimme verlieren. So werden neue Stimmen gebraucht: Ein behutsames Kammerspiel, von Marie Bues und Anouschka Trocker 2023 am Kosmos Theater Wien uraufgeführt.
Von Elena Philipp
29. April 2024. Ein Gendefekt ist der Grund: Dafür, dass der Stimmapparat ihres Bruders in absehbarer Zeit nicht mehr funktionieren wird. Stimmassistenz wird nötig. Aber muss das eine defizitäre Situation sein? Nein! Es ist die Chance, sich viele neue Stimmen zuzulegen. Eine für die anstrengenden Montage. Eine verführerische. Eine kompetente Stimme, die Arztgespräche führt. Eine Stimme für die Familie – "allgemein nicht die besten Orte, eine eigene Stimme zu finden". Wie in einer Versuchsanordnung spielt Magdalena Schrefel in ihrem Theatertext, der gemeinsam mit ihrem Bruder Valentin Schuster entstanden ist, diese Vision durch. Und entwirft die Vision einer (nahen) Zukunft, in der Behinderung nicht mehr als Einschränkung verstanden wird.
In der Inszenierung von Marie Bues und Anouschka Trocker wird der Bruder, wie im Stück vorgesehen, von einem Schauspieler vertreten, von Leonard Grobien. Die Schwester, also die Autorin, wird von der Schauspielerin Florentine Krafft verkörpert – "damit wir gleichermaßen repräsentiert sind". Flott fliegen die Dialoge zwischen den beiden hin und her, gewitzt und auf Diskurshöhe. Geht es nicht ein bisschen viel um die Autorin, deren Figur anfangs jede Äußerung der Bruder-Figur MEIN BRUDER einleitet? Um ihre Angst, ihre Sicht auf ihn und auf die gemeinsame Familie?, fragt Grobien, dessen gelassene Art mit Kraffts aufgekratzt-bemühtem Bloß-nichts-falsch-machen-Gestus korrespondiert.
Du musst Dich nicht schämen
Immer stärker tritt der Bruder als Erzähler in den Fokus. Wenn die Schwester Familie als peinliche Einheit vorstellt, die im China-Restaurant lachend "Leis" statt Reis bestellt, widerspricht der Bruder: "In deiner Geschichte ist das so." Er würde erst einmal sagen, dass er seine Familie mag. Dann zählt Leonard Grobien auf, wer alles zur Familie gehört – Mutter, Väter, Onkel, Tanten. Man könnte auch beschreiben, welche Körper es in der Familie gibt, steigt Florentine Krafft auf sein Sprachspiel ein. Kleine, große, junge, alte, gesunde, kranke… Die beiden sind jetzt im Flow.
Sprache formt Bewusstsein. Wie erzählen wir von einer Situation, einer Person? Unangestrengt bringen Magdalena Schrefel und Valentin Schuster ein Kernthema für den alltäglichen Umgang mit Behinderung aufs Tapet, einen Umgang, für den die Mehrheitsgesellschaft noch kaum Formulierungen kennt. "Die vielen Stimmen meines Bruders" ist insofern auch: eine Einübung. Die stetes Scheitern umarmt: In der Familie gibt es nur einen Behinderten, und das sei er selbst, ergänzt Grobien Florentine Kraffts Liste. Für einen Moment steht die Peinlichkeit zwischen ihnen, wenn ausgerechnet er mal wieder nicht vorkommt. Oder die Unbedachtheiten: Wenn die Schwester Spontaneität von ihm fordert und vergisst, dass er nicht einfach ohne Assistenz unterwegs sein kann. "Du musst Dich nicht schämen, nur dazu lernen", sagt Grobien irgendwann zu Krafft. Und wendet ihren geschwisterlichen Umgang mühelos wieder ins Leichte.
Abheben in die Schwerelosigkeit
Irgendwann schickt Grobien die Schwester dann von der Bühne. Jetzt hat er seinen Heldenmoment, den er sich gewünscht hat – glänzen will er, die Stellvertreterfigur im Stück soll stets "entschlossen, mutig, zuversichtlich" sein. Eine Figur ohne Brüche. Vor allem aber: ohne Einschränkungen. Ungewöhnlich heißt nicht unmöglich, so lautet das Motto, auf das sich Bruder und Schwester einigen. Und da kommen wieder die Stimmen zum Zug: Welch berufliche Möglichkeiten sie ihm eröffnen: Polizist könnte er werden oder Arzt – hier zieht Leonard Grobien auf dem Rampen-Podest, das ihm Florentine Krafft gebaut hat, den Stift aus seiner Hemdtasche als sei’s ein weißer Kittel, das Licht leuchtet regenbogenbunt.
Und dann wird auch klar, warum Star Trek-Gepiepe die Szenen trennte und interstellare Nebel auf den Rahmen mit der Gaze projiziert sind, hinter dem Sarah Zastrau im Blaumann und mit Maske die Personen mimt, die sich in einer Casting-Szene als Bruder-Stimmen vorstellen. Denn die kühnste Vision des Bruders ist es, als Astronaut ins All zu fliegen. Seine kompetenteste Stimme verschafft ihm den Platz im Raumfahrtprogramm. Nebel wallt auf und dann zählen die drei Spieler:innen herunter und Florentine Krafft und Sarah Zastrau heben die Handknauf-Puppe, die schon einmal für den Bruder einstand, in die Schwerelosigkeit. Wie sagt Florentine Krafft zum Schluss? "Es geht darum zu lernen, uns vorzustellen, dass all das möglich sein kann."
Von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster
Regie: Marie Bues und Anouschka Trocker, Bühne und Kostüme: Heike Mondschein, Konzept Puppenspiel: Katharina Halus, Sarah Zastrau, Musik: Liz Allbee, Video: Bateira, Licht: Oliver Mathias Kratochwill, Ton: Christoph Pichler, Dramaturgie:Tobias Herzberg.
Mit: Leonard Grobien, Florentine Krafft, Sarah Zastrau, Im Video: Samuel Koch, Sprecher*innen: Levin Çavuşoğlu, Martin Engler, Godehard Giese, Tobias Herzberg, Tobias Kluckert.
Uraufführung am 1. September 2023
Schauspielhaus Wien, in Koproduktion mit dem Kosmos Theater Wien und dem Kunstfest Weimar
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.schauspielhaus.at
Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
Die ersten hundert Tage von Lars Werner
14:30 Uhr
Brennendes Haus von Anaïs Clerc
16:00 Uhr
2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger von Frankfurter Hauptschule
Zwinger 1
Gastspiel Lichthoftheater Hamburg
JUDEN JUDEN JUDEN
von und mit Hamburger Jüd*innen und Texten von Simoné Goldschmidt-Lechner
Regie: Ron Zimmering und Dror Aloni
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Düsseldorfer Schauspielhaus
My Private Jesus
von Lea Ruckpaul
nach einer Idee von Eike Weinreich
Regie: Bernadette Sonnenbichler
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
präsentiert von Zwinger x
Rahmenprogramm
Eintritt frei
Zwinger 3 und online
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
Ghostbike von Julie Gurgonis
14:30 Uhr
DRUCK! von Arad Dabiri
16:00 Uhr
Kind aus Seide von Leonie Ziem
Gastspiel Theaterhaus Jena
Die Hundekotatacke
von Walter Bart, Hannah Baumann, Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfanenmüller, Anna K. Seidel / Wunderbaum
Regie: Walter Bart
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Schauspielhaus Wien
Die vielen Stimmen meines Bruders
Es Stück für an- und abwesende Körper
von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster
Regie: Marie Bues und Anouschka Trocker
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Theater Bielefeld
else (someone)
von Carina Sophie Eberle
Regie: Nadja Loschky
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Alter Saal
Gastspiel Junges Schauspiel – Düsseldorfer Schauspielhaus
Time to Shine
Tanz und Theaterspektakel von Takao Baba + Ensemble
Inszenierung für schwerhörige und taube Menschen
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Stuttgart
forecast:oedipus
von Thomas Köck
Regie: Stefan Pucher
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Expanded Theater | Hochschule der Künste, Bern
FRONTSTAGE
Männlichkeit zwischen Spiel und Krieg
von und mit Polina Solotowizki, Bogdan Kapon und Ivan Borisov
Regie: Polina Solotowizki
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Theater Konstanz
Tragödienbastard
von Ewe Benbenek
Regie: Emel Aydoğdu
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Fremd
von Michel Friedmann
Regie: Stefan Kimming
Uraufführung
Zwinger 3
Theater und Orchester Heidelberg
Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau 10+
sehr frei nach Hans-Christian Andersen von Roland Schimmelpfennig
Regie: Marcel Kohler
Mülheimer Kinderstückepreis 2023
Alter Saal
Gastspiel Theater Lübeck
BOMB
von Maya Arad Yasur
Regie: Sapir Heller
Zwinger 3
Gastspiel Turbo Pascal, Berlin
Common Things
von Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Regie: Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauburg München
Erik*a 15+
mit Texten von Theresa Seraphin
Regie: Daniel Pfluger und Lukas März
Alter Saal
Gastspiel Landestheater Linz
Fischer Fritz
Regie: David Bösch
Marguerre- Saal
Gastspiel Schaubühne Berlin
In Memory of Doris Bither
von Yana Thönnes
Regie: Yana Thönnes
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
mit Musik aus dem Gastland Georgien
Eintritt frei
Sprechzimmer
Gastspiel Laboratory of Perfoming Arts, Tblissi
Zwilinge
von Giorgi Maisuradze
Regie: Giorgi Maisuradze
Gergisch mit deutschen Übertiteln
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Georgien
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Der weiße Hund von Davit Khorbaladze
14:30 Uhr Terzett von Marita Liparteliani
16:00 Uhr Wer klopft von Alex Chigvinadze
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili und Masho Makshvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Alter Saal
Gastspiel Royal District Theatre, Tblissi
Medea s01e06
von Paata Tsikola
Regie: Paata Tsikola
Georgisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Georgien
u.a mit Gastland Kurator Davit Gabunia
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili, Masho Makshvili und Elene Matskhonashvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Zwinger 1
Gastspiel Georgian Regional Theatre Networks
Niko Nikoladze - Sergo Parajanov
von Elene Matskhonashvili, Tengiz Khukhia und Levan Khetaguri
Regie: Elene Matskhonashvili
Georgisch nmit deutschen Übertriteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Antropolis II: Laios
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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