Gastspiel Theaterhaus Jena – Die Hundekot-Attacke
Lachen, Staunen, Wunden lecken
Ein bekannter Choreograf, der einer prominenten deutschen Tanzkritikerin in der Pause den Kot seines inkontinenten Dackels ins Gesicht schmiert, angeblich aus Frust über schlechte Kritiken: dieser Skandal liegt dem gefeierten Theaterabend von Wunderbaum zu Grunde, der vor seiner Weiterreise zum Berliner Theatertreffen zunächst beim Heidelberger Stückemarkt zu sehen ist.
Von Georg Kasch
29. April 2024. Was ist denn das? Da trippeln sechs Menschlein in merkwürdigen schwarzen Kostümen über die Bühne, wuseln mit den Händen über ihren Köpfen, wischen damit im Gesicht herum, lassen sie unter der Nase flattern: Gestank! Dann fiedeln und zupfen und blasen sie in der Luft, als spielten sie die hübsch schräge zeitgenössische Klassik, die aus den Boxen dröhnt. Plötzlich singen sie "I’m sorry". Pina Bergemann windet sich am Boden, röchelt als Desdemona im Todeskampf. Dann: Blumen, Verbeugen, Applaus.
Was, doch nicht Schluss? Stattdessen: Pop-Choreo und Action Painting: Sie breiten eine weiße Plane aus und Anna K. Seidel lässt den von der Decke baumelnden Farbtopf kreisen. All die kleinen Tropfen bilden auf dem Boden eine Vulva. Schließlich brüllen alle im Chor: "Macht. Power. Macht der Power". Es ist entsetzlich.
Und himmelschreiend komisch. Denn diese Parodie auf Neo-Avantgarden und den zeitgenössischen Tanz bilden ja nur die letzten 15 Minuten von"Die Hundekot-Attacke" vom Theaterhaus Jena. Dort übernahm 2018 ein Team um Wunderbaum die Leitung, und auch, wenn sich die niederländische Gruppe 2022 zurückzog, hat nun Wunderbaum-Mitbegründer Walter Bart Konzept und Regie für den vermutlich folgenreichsten Theaterabend des Theaterhauses Jena entwickelt: Heidelberg-Gastspiel, Theatertreffen-Einladung, 3sat-Preis. Alles völlig verdient.
Rundmails, Absprachen, geheime Botschaften
Im Zentrum steht jener Angriff des Choreografen und Leiter der Ballett-Compagnie in Hannover auf eine Tanzkritikerin mit den Ausscheidungen seines Dackels, der weit über die Kulturgrenzen hinaus eine Debatte über das Verhältnis von Kunst und Kritik, aber auch über Machtmissbrauch losgetreten hat. Nach einem eher harmlos-charmanten Kurzvortrag von Linde Dercon über ihren Werdegang als Tänzerin (mit dem Clou, dass sie der Ballett-Premiere beiwohnte, in deren Pause der Angriff geschah) folgt nämlich keine szenische Umsetzung von irgendwas. Die sechs Performer:innen sitzen frontal auf ihren Stühlen vor ihren Mikrofonen und lesen die E-Mails vor, die angeblich während des Entstehungsprozesses geschrieben wurden.
Was sich jetzt entfaltet, ist eine Theaterbetriebsparodie, die leise startet und bald heftig crescendiert. Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller und Anna K. Seidel – Stichwort kollektives Arbeiten – intrigieren und sabotieren, flirten und kritisieren (und lügen auch mal, wenn’s der Karriere dient). Neben den Rundmails hören wir die geheimeren Botschaften und Absprachen, sehen die minimalen, aber doch pointierten Reaktionen auf den Gesichtern der jeweils gemeinten. Über die Leinwand hinten flimmern derweil nur wenige Bilder – Urlaubsfotos, Plakatentwürfe, ein hinreißend ironisches Dackel-Casting.
Toll ist, dass der Abend nicht bei der Parodie bleibt, sondern all die Themen angerissen werden, die das Theater (und manchmal auch die Gesellschaft) so umtreiben: Darf man Gewalt gegen Frauen auf der Bühne reproduzieren? Warum werden Täter so oft romantisiert, ikonisch, während Opfer ohne Stimme bleiben? Lässt sich so ein Angriff angemessen bebildern? Aber auch: Wie sehr darf und will man mit Themen wie der Hundekot-Attacke das öffentliche Interesse triggern? Und warum funktioniert das so gut?
Feier des Theaters
Oder der Themenkomplex Kritik. Schön zu sehen, dass nicht nur wir Kritiker:innen das Verhältnis von Kunst und Künstler:innen überinterpretieren, sondern auch die Künstler:innen das von Kritik und Kunst. Wie Leon Pfannenmüller seine durch einstige Kritiken geschlagenen Wunden leckt, ist rührend und komisch zugleich. Bei Pina Bergemann, die Tobias Prüwers"Othello"-Verriss zitiert, erweist sich das Feedback sogar als produktiv.
Im Verlauf des Abends werden zudem einige Performer:innen selbst zu Tanzkritiker:innen, als sie die Werke des Choreografen (dessen Name nie genannt wird) analysieren. Derweil türmen sie Idee auf Idee, verwerfen, projektieren, projizieren. Das klingt alles abenteuerlich abstrus und ist ein großer Spaß. Bis – da ist man dann schon ein wenig überrascht – sich nach all den E-Mails ein Worst-of der Ideen bildhaft einlöst. Bei einer Feier des Theaters, die einen beben macht. Vor Lachen. Und vor Staunen über dieses perfekte Stück Meta-, Diskurs- und Performancetheater aus Jena.
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Konzept / Regie: Walter Bart (Wunderbaum), Bühne: Maarten van Otterdijk, Kostüm: Carolin Pflüger, Dramaturgie: Hannah Baumann, Choreografie: Edoardo Cino.
Von und mit: Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller, Anna K. Seidel.
Premiere am 27. Oktober 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theaterhaus-jena.de
Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
Die ersten hundert Tage von Lars Werner
14:30 Uhr
Brennendes Haus von Anaïs Clerc
16:00 Uhr
2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger von Frankfurter Hauptschule
Zwinger 1
Gastspiel Lichthoftheater Hamburg
JUDEN JUDEN JUDEN
von und mit Hamburger Jüd*innen und Texten von Simoné Goldschmidt-Lechner
Regie: Ron Zimmering und Dror Aloni
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Düsseldorfer Schauspielhaus
My Private Jesus
von Lea Ruckpaul
nach einer Idee von Eike Weinreich
Regie: Bernadette Sonnenbichler
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
präsentiert von Zwinger x
Rahmenprogramm
Eintritt frei
Zwinger 3 und online
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
Ghostbike von Julie Gurgonis
14:30 Uhr
DRUCK! von Arad Dabiri
16:00 Uhr
Kind aus Seide von Leonie Ziem
Gastspiel Theaterhaus Jena
Die Hundekotatacke
von Walter Bart, Hannah Baumann, Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfanenmüller, Anna K. Seidel / Wunderbaum
Regie: Walter Bart
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Schauspielhaus Wien
Die vielen Stimmen meines Bruders
Es Stück für an- und abwesende Körper
von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster
Regie: Marie Bues und Anouschka Trocker
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Theater Bielefeld
else (someone)
von Carina Sophie Eberle
Regie: Nadja Loschky
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Alter Saal
Gastspiel Junges Schauspiel – Düsseldorfer Schauspielhaus
Time to Shine
Tanz und Theaterspektakel von Takao Baba + Ensemble
Inszenierung für schwerhörige und taube Menschen
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Stuttgart
forecast:oedipus
von Thomas Köck
Regie: Stefan Pucher
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Expanded Theater | Hochschule der Künste, Bern
FRONTSTAGE
Männlichkeit zwischen Spiel und Krieg
von und mit Polina Solotowizki, Bogdan Kapon und Ivan Borisov
Regie: Polina Solotowizki
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Theater Konstanz
Tragödienbastard
von Ewe Benbenek
Regie: Emel Aydoğdu
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Fremd
von Michel Friedmann
Regie: Stefan Kimming
Uraufführung
Zwinger 3
Theater und Orchester Heidelberg
Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau 10+
sehr frei nach Hans-Christian Andersen von Roland Schimmelpfennig
Regie: Marcel Kohler
Mülheimer Kinderstückepreis 2023
Alter Saal
Gastspiel Theater Lübeck
BOMB
von Maya Arad Yasur
Regie: Sapir Heller
Zwinger 3
Gastspiel Turbo Pascal, Berlin
Common Things
von Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Regie: Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauburg München
Erik*a 15+
mit Texten von Theresa Seraphin
Regie: Daniel Pfluger und Lukas März
Alter Saal
Gastspiel Landestheater Linz
Fischer Fritz
Regie: David Bösch
Marguerre- Saal
Gastspiel Schaubühne Berlin
In Memory of Doris Bither
von Yana Thönnes
Regie: Yana Thönnes
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
mit Musik aus dem Gastland Georgien
Eintritt frei
Sprechzimmer
Gastspiel Laboratory of Perfoming Arts, Tblissi
Zwilinge
von Giorgi Maisuradze
Regie: Giorgi Maisuradze
Gergisch mit deutschen Übertiteln
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Georgien
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Der weiße Hund von Davit Khorbaladze
14:30 Uhr Terzett von Marita Liparteliani
16:00 Uhr Wer klopft von Alex Chigvinadze
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili und Masho Makshvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Alter Saal
Gastspiel Royal District Theatre, Tblissi
Medea s01e06
von Paata Tsikola
Regie: Paata Tsikola
Georgisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Georgien
u.a mit Gastland Kurator Davit Gabunia
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili, Masho Makshvili und Elene Matskhonashvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Zwinger 1
Gastspiel Georgian Regional Theatre Networks
Niko Nikoladze - Sergo Parajanov
von Elene Matskhonashvili, Tengiz Khukhia und Levan Khetaguri
Regie: Elene Matskhonashvili
Georgisch nmit deutschen Übertriteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Antropolis II: Laios
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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