Die Gegenwärtigkeit des Traumas

Februar 2024. Ukraine-Krieg, Nahost-Konflikt – die geopolitische Lage ist derart in Bewegung, dass eine Dramatik, die Zeitgenossenschaft beansprucht, kaum noch hinterher zu kommen scheint. Verarbeiten Dramatiker:innen deshalb wieder verstärkt antike Dramen? Wir sprachen mit John von Düffel, Professor für Szenisches Schreiben, über den Druck der Tagesaktualität und das aufklärerische Potenzial einer verlangsamten Zeit.

John von Düffel © Katja von Düffel

John von Düffel, Sie sind seit 2009 Professor für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Welche ästhetischen, formalen, sprachlichen, inhaltlichen Trends können Sie derzeit bei jungen Dramatiker:innen verzeichnen?

John von Düffel: Die größte Veränderung in formaler und inhaltlicher Hinsicht kommt sicher aus dem Nachdenken über Herkunft, Identität und Diversität, über das autofiktionale Erzählen und die machtkritische Hinterfragung gewisser Dramaturgien und Rollenbilder. Da hat sich in den letzten zehn Jahren unter den jungen Autor:innen ein Bewusstsein entwickelt, das manche Schreibweisen und Stücke, die bisher unumstritten zum Kanon gehört haben, grundsätzlich infrage stellt.

Ukraine-Krieg, Nahost-Konflikt, ein drohender Krieg zwischen China und Taiwan – die geopolitische Lage ist momentan derart in Bewegung, dass man als Dramatiker:in – auch Mangels Einblick in die weltpolitischen Hinterzimmer – nur spekulieren kann. Gleichzeitigen beeinflussen die Konflikte, sei es direkt oder indirekt, unser Leben massiv. Wie geht ein:e politisch denkende:r Dramatiker:in mit diesem Dilemma um?

John von Düffel: Die Arbeit am Konflikt im Theater hat immer mit Zeit zu tun – und mit Zeitverschiebungen: der maximalen Gegenwärtigkeit des Live-Publikums im Zuschauerraum und der Zeit, die es braucht, einen Stoff zu durchdringen, eine Sprache zu finden, ein Stück zu schreiben, es zu proben usf. Auch wenn die Schocks und Erschütterungen des Kriegs- und Krisenmodus keinen Aufschub zu dulden scheinen, ohne Zeit geht es nicht. Tagesaktualität ist für Theaterautor:innen auf der Bühne nicht abbildbar. Doch der ästhetische Zwang zur Verlangsamung muss nicht zwangsläufig ein Nachteil sein. Er kann auch eine andere Sichtweise ermöglichen und im Schreiben dazu führen, die Tiefendimensionen, das Elementare und Archaische aufzusuchen.

Wer einen Blick auf die Uraufführungen der vergangenen Monate wirft, bekommt den Eindruck, dass Mythen-Bearbeitungen in der Dramatik aktuell wieder sehr gefragt sind. Lässt sich unsere Gegenwart in ihrer Zunahme geopolitischer, aber auch zwischenmenschlicher Gewalt, anders nicht mehr erzählen? Gibt es gar eine narrative Verbindung zwischen Mythos und Gewalt?

John von Düffel: Zunächst mal: Die Antike altert anders. Und in gewisser Weise gar nicht, im Vergleich zu manch anderen Texten. Auf der einen Seite scheinen die antiken Dramen zeitlos, auf der anderen Seite ist viel Zeit und Zeitgeschichte in ihnen abgelagert. Diese Stücke sind ein Kulturerbe, aber auch ein Gewalterbe. Die Mythen erzählen vom Krieg und vom Töten; ihre Gegenwärtigkeit hat bei aller künstlerischen Überformung immer mit der Gegenwärtigkeit des Traumas zu tun. Vatermord, Muttermord, Inzest und Krieg – der Mythos adressiert das Unaussprechliche, verleiht ihm Gestalt und macht es auf immer wieder neue, andere Art darstellbar.

Auch Sie haben als Dramatiker Stücke von Euripides, Sophokles und Aischylos adaptiert. Worin liegt der künstlerische Reiz, sich als Sparringspartner an diesen Vorlagen abzuarbeiten?

John von Düffel: Ich würde – ein bisschen altmodisch – schon von Werken sprechen und mich eher als Übersetzer und Bearbeiter sehen, dessen Aufgabe es ist, den Zugang zu den Inhalten und Gewalten, die in diesen Stücken wirken, freizulegen. Viel davon ist durch abgebrochene historische Brücken, akademische gewordene Referenzen und sprachlichen Schwulst verstellt. Aber an das Kerndrama und die Wucht des Mythos glaube ich sehr. Ich versuche, dafür eine möglichst pure, verdichtete Sprache zu finden und den Zugang zu der Archaik zu legen, die aus meiner Sicht nicht vorbei ist.

Regisseur:innen greifen ebenfalls immer wieder zu antiken Dramen, um sie mit einer zeitgenössischen Handschrift bzw. Lesart zu versehen. Man könnte die Aktualisierung demnach auch schlicht der Regie überlassen. Worin liegen die Stärken einer dramatischen Überschreibung?

John von Düffel: Aktualisierung ist aus meiner Sicht ein zweischneidiges Schwert. Natürlich können wir nicht anders, als jedes Stück, jeden Stoff aus dem Moment unserer Zeitgenossenschaft zu lesen. Jeder Versuch, ein Stück zu verstehen, ist eine Art Aktualisierung, weil ich es aus dem Hier und Jetzt heraus denke. Aber Aktualisierung wird oberflächlich, wenn sie das Damals und Heute schlicht gleichsetzt. Die Differenz ist genauso spannend und wichtig wie die Analogie. Und ich glaube deswegen tut die Vermittlung, Überarbeitung oder auch Überschreibung durch Autor:innen dem Theater gut: Weil es eine andere Sprache, eine zweite oder dritte Phantasie zwischen dem Damals und dem Heute einzieht und dem Spiegel, der die Inszenierung sein kann, eine weitere Dimension verleiht.

Welche literarischen, künstlerischen Herangehensweisen empfehlen Sie Studierenden, die sich an einer Bearbeitung einer antiken Vorlage versuchen wollen?

John von Düffel: Das ist ja keine Fingerübung, und es gibt dafür auch kein Rezept. Ich würde immer zuerst danach fragen, was verstehe ich, was verstehe ich nicht. Und wo entsteht für mich die stärkste Resonanz. Dieser Resonanz würde ich nachgehen in der Hoffnung, dass sich mir dadurch ein Zugang eröffnet. Und als weiteren Rat vielleicht: Es wird nicht alles zu verstehen sein, aber es ist vielleicht sogar die größere Herausforderung, das Unverständliche einzukreisen und in den Mittelpunkt zu stellen, als es zu erklären.

Mittels antiker Stoffe lassen sich Konflikte aus einer Distanz heraus, gar überparteilich erzählen. In "Die Perser" nimmt Aischylos, selbst Grieche, sogar empathisch die Perspektive der durch die Griechen besiegten Perser ein. Hat es ein solches Verfahren in unserer polarisierten Gesellschaft heute schwer?

John von Düffel: Ja, der Dialog und damit der Perspektivwechsel, die wechselnde Parteinahme des Publikums für die eine Seite und dann wieder die andere – das gehört zu den größten Erfindungen des antiken Dramas. Fast jedes Stück jener Zeit gleicht einer Gerichtsverhandlung und schlüsselt den Fall, den es verhandelt, von sehr verschiedenen Seiten auf. Heute leben wir vor allem medial in einer Welt der Polarisierung ohne Differenzierung und der Diffamierung entgegengesetzter Standpunkte. Da waren wir kulturell schon mal weiter. Doch immerhin sind wir noch in der Lage, die Toleranz- und Empathie-Verluste zu registrieren.

Die Fragen stellte Dorte Lena Eilers.

John von Düffel ist Dramaturg, Autor und Dozent für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Promotion 1989 über Erkenntnistheorie. Seitdem Autor und Dramaturg an verschiedenen Theatern: in Stendal, Oldenburg, Basel und Bonn. Von 2000 bis 2009 am Thalia Theater Hamburg. Von 2009 – 2023 Dramaturg Deutschen Theater Berlin und Dozent für Szenisches Schreiben an UdK. Autor zahlreicher Theaterstücke und Bühnenbearbeitungen von Romanen ("Buddenbrooks") sowie von antiken Stoffen ("Ödipus-Stadt"). Seine Romane "Vom Wasser" (1998), "Houwelandt" (2004) wurden Bestseller, desgleichen sein neuestes Buch über Askese "Das Wenige und das Wesentliche" (2022), sämtlich erschienen bei Dumont.