Zwischen den Fronten

29. Februar 2024. Das Wort "Positionierung" hat im Zuge weltpolitischer Krisen derzeit Konjunktur. Ist der klassische Ansatz des theatralen Schreibens, Konflikte auf der Bühne zu verhandeln, im Angesicht der Kriege und der damit einhergehenden Debatten damit selbst in die Krise geraten? "Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber", heißt es in Heiner Müllers "Hamletmaschine". Wir haben vier Dramatiker:innen gefragt, welche Gültigkeit dieses Zitat für die Gegenwartsdramatik hat.

Svenja Viola Bungarten: Die Front durch Gleichzeitigkeit auflösen

Die Rhetoriken des Krieges rufen Binäritäten zurück ins Programm. Nicht, dass sie jemals verschwunden wären, aber heute gewinnen sie wieder eine ausschließende Macht, die Gewalt vermehrt und die Toleranz für Ambivalenz verringert. In dem Versuch des Zitats, die "Front" – die Grenze zum Gegner – durch Gleichzeitigkeit („auf beiden Seiten“) und den Zwischenraum ("dazwischen") oder das Transzendente ("darüber") aufzulösen oder zu erweitern, liegt ja möglicherweise die Frustration darüber, dass eine Front immer etwas höchstens Zweiseitiges hervorruft. Damit geht ein Zwang zur Positionierung einher, der letztendlich zur Auslöschung der anderen Seite führt.

Ambivalenz und Ambiguität zuzulassen, sind jedoch anspruchsvolle Prozesse, die beispielsweise vom Theater angeboten werden sollten. Konflikte, die ein "weder noch" und ein "sowohl als auch" beinhalten, bieten die Möglichkeit für Dramatik, diverse, widersprüchliche und ambivalente Perspektiven anzubieten. Im Zitat von Heiner Müller wie in der Dramatik selbst geht es schließlich vor allem um Perspektivierung. Ich finde, dies stellt eine ziemlich aktuelle Aufgabe des Theaters dar.

Svenja Viola Bungarten studierte Szenisches Schreiben und Narrativer Film an der Universität der Künste Berlin sowie den Master Art and Politics an der Goldsmiths University in London. Mit ihrem feministischen Horrorstück "Maria Magda" gewann sie den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2021. Der Text wurde ins Polnische übersetzt und unter anderem in Krakau und Danzig gezeigt. 2022 erhielt sie für ihr Stück "Die Zukünftige" den 3. Else-Lasker-Schüler Stückepreis. Ihr Stück "Garland" wurde im Oktober 2021 am Schauspielhaus Graz uraufgeführt und erhielt als Beste Aufführung den Nestroypreis. (Foto Lea Hopp)

 

Patty Kim Hamilton: Ein Raum des wirklichen Zuhörens

Nina Simone sagte: "Meiner Meinung nach ist es die Aufgabe eines Artists, die Gegenwart zu reflektieren." Aber was bedeutet es, die Gegenwart zu reflektieren, wenn die Gegenwart Konflikt in sich trägt, und jede Reflexion unsere eigene Perspektive mit einbezieht? Ich würde Simone beistehen, dass die Verantwortung derjenigen, die schreiben, ist, unsere Gesellschaft mit Klarheit zu beobachten und darzustellen. Dazu gehört es, für mich und viele andere, mit Offenheit und Liebe (hier lehne ich mich an bell hooks) für verschiedene Perspektiven und Nuancen, und vor allem mit Empathie gegen die Verrohung der Gesellschaft zu schreiben (hier lehne ich mich an Necati Öziri). Es bedeutet, Geschichten in genau dieser Komplexität darzustellen und sich nicht auf simplen Narrativen auszuruhen. Gegen die Verrohung der Gesellschaft zu schreiben, bedeutet auch, klar Stellung zu nehmen gegen die Zerstörung von Menschen und Kulturen, gegen Gewalt jeglicher Art, gegen Nicht-Zuhören und Auseinandergehen. Aus meiner Sicht bedeutet es auch nicht unbedingt, Lösungen vorzugeben, denn darin verlieren wir auch das Szenische, das Lyrische, was uns zum Denken und Reflektieren ermutigt und uns prägt. Konflikt ist ein menschlicher Zustand – Worte haben das Potenzial, uns miteinander zu verbinden. Und in einer Zeit der Hochspannung, im Aufstieg des Faschismus, müssen wir, die beobachten und spiegeln, Raum für Begegnung und wirkliches Zuhören eröffnen.

Patty Kim Hamilton bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Intimem und Politischem – in ihren Texten und Arbeiten reflektiert sie zwischenmenschliche Wirklichkeiten und die Möglichkeiten einer zukünftigen Welt. Ihre künstlerische Praxis umfasst Dramaturgie, Regie, Lehren und Schreiben. Ihr Stück "Peeling Oranges" erhielt beim Heidelberger Stückemarkt 2021 den SWR2-Hörspielpreis, den Jane Chambers Award for Feminist Playwriting, den 2. Preis des Nancy Dean Lesbian Playwriting Award und den 2. Else Lasker-Schüler-Preis. In der Spielzeit 23/24 ist sie Hausautorin der ATT Ateliers am Deutschen Theater Berlin. (Foto Patty Kim Hamilton)

 

Olga Bach: Relativismus nein, Ambivalenz unbedingt

Mit der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956 ist der Kommunismus nicht nur in seiner Ausführung gescheitert. Die Ideologie selbst hat sich entlarvt: Sie opfert den Einzelnen. Jedenfalls aus heutiger Sicht ist es befremdlich, dass Müller nur hamlethaft zaudert, anstatt sich zu einem historischen Irrtum zu bekennen. Der Dramatiker konstruiert einen inneren Konflikt, relativiert, wo eigentlich Haltung gefragt wäre. Was nicht bedeutet, dass Dramatikerinnen stets einer Bekenntnispflicht unterlägen. Worüber ich nicht schreiben kann, darüber muss ich schweigen. Wenn ich heute aber schreibe, wäre dann ein dramatischer Relativismus nicht zynisch? Gerade weil doch humanistische Grundprinzipien plötzlich für verhandelbar erklärt werden. Die Zeiten der Konfliktlosigkeit sind vorbei. Was bei all dem Ernst aber essentiell ist, sowohl für die Lust am Schreiben, als auch in der Rezeption: Relativismus nein, Ambivalenz unbedingt. Vielleicht sogar Leichtigkeit? Life is too important to take it seriously. In diesem Sinne könnte ein zeitgenössischer dramatischer Konflikt nicht wie das klassische bürgerliche Drama die Verhältnisse zertrümmern, sondern sie vorrevolutionär erhalten. Klingt konservativ, ist aber angesichts von Autokratismus im Außen und Verfassungsfeinden im Innern angemessen? Wir haben keine Zeit mehr für Pessimismus. Und für Snobismus sowieso nicht.

Olga Bach studierte Philosophie, Deutsche Philologie und Rechtswissenschaften in Berlin und Istanbul. Bachs Stücke wurden u.a. am Theater Basel, HAU Berlin und den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Im Herbst 2023 ist ihr Debütroman "Kinder der Stadt" bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. (Foto Bahar Kaygusuz)

 

Dirk Laucke: Konflikte, Konflikte

Ehrlich gesagt, reagiere ich ein wenig allergisch, wenn schmissig-künstlerische Zitate irgendeine Gültigkeit über das Zeitgeschehen aufweisen sollen. Auf den ersten Blick kommt beim Müller-Zitat hinzu: dass jemand sich anscheinend nicht schmutzig machen möchte und von luftiger Höhe die Krisen, Kriege, Katastrophen betrachten will. Und auf die dem Zitat beigestellte Frage, ob der "klassische Ansatz des theatralen Schreibens, Konflikte auf der Bühne zu verhandeln, im Angesicht der derzeitigen Kriege und der damit einhergehenden Debatten in die Krise geraten ist", fällt mir auf Anhieb ein, dass Menschen seit ca. 4000 Jahren ihre Probleme schriftlich künstlerisch verarbeiten.

Seit ca. 3000 Jahren spielen Kriege, Versklavung, Flucht und Vertreibung und sexuelle Gewalt eine Rolle (die "Ilias", "Die Troerinnen", "Die Schutzflehenden", "Medea"). Im 13. Jahrhundert schrieb der chinesische Dramatiker Guan Hanqing über zwangsverheiratete Kinder. Grimmelshausen und Gryphius fiel zu ihrem Zeitgeschehen (dem 30-Jährigen Krieg) sehr wohl etwas ein; ebenso dem ehemaligen Sklaven Cervantes, dem Hofmeister Lenz, Büchner usw. Die Schrecken der Weltkriege? Ernst Toller, Wolfgang Borchert, Elfriede Jelinek. Biljana Srbljanović schrieb über den Krieg in Jugoslawien. Tabori wagte sich sogar an die Shoa. Alles dies mit Hilfe eines "klassischen Ansatzes, Konflikte auf der Bühne zu verhandeln". Die Frage ist immer gleich: Wie?

Für jemanden, der nicht unmittelbar vom 30-jährigen Krieg betroffen ist, ist es natürlich gemütlich, sich aus luftiger Höhe über das Thema zu beugen. Einleuchtend scheint mir, dass dem Ukrainer Serhij Zhadan die Worte (und die Zeit) für Prosa fehlen, während seine Heimatstadt Charkiw in Stücke geschossen wird. Die israelische Autorin Zeruya Shalev fühlte sich Anfang Februar 2024 noch nicht imstande, zu ihrem Roman zurückzukehren. Und doch bin ich sicher, die beiden werden ihre literarische Stimme wieder erheben. Und zwar, indem sie ihr literarisches Personal Konflikte austragen lassen. Was denn sonst?!

Die Frage ist, wie ich mit den gegenwärtigen realen Konflikten umgehe? Ich bin einfach gestrickt: Wenn mich die Dinge beschäftigen, verhandele ich sie! Ein Über-den-Dingen-stehen, wie das nach nur einem Blick gedeutete Müller-Zitat vermeintlich nahelegt, kann meines Erachtens nicht die Antwort sein. Ganz im Gegenteil! Und wenn wir mal genauer auf die Stelle in der "Hamletmaschine" schauen: Müller schickt seinen Hamletdarsteller ebenso ins Ringen – und zwar mit der eigenen Position. "Mein Drama, wenn es noch stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstands statt." Darauf folgt eine Schilderung eines Umsturzes der Regierung. Und dem Satz "Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front (...)" folgt: "Ich stehe im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas." Wenig später: "Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich." Müllers Text enthält einen Konflikt – den eines Kunstschaffenden. Er verhandelt die Themen, die ihm nah sind. An diese Devise halte ich mich auch.

Deswegen ist es selbstverständlich für mich, in meinem Monolog "Ich liebe dir. Aber lass dich nicht übern Haufen schießen", der im Januar am Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt wurde, auch das Pogrom vom 7. Oktober 2023 und den Umgang mit dem Krieg gegen die Ukraine zu verhandeln. Dies aber nicht, weil diese Ereignisse nun mal in der Welt sind oder weil es angesagt wäre, mal was dazu zu sagen, sondern weil sie mich (von meinen ukrainischen Bekannten und israelischen Freund*innen mal abgesehen) auch in Deutschland etwas angehen! Sie bilden einen zentralen Diskussionspunkt der Figur Papa Maik, der auf der Suche nach Sohn Chris über ihre unterschiedlichen Positionen sinniert – und zwar deswegen, weil Sohn Chris mit dem Gedanken spielt, zur Bundeswehr zu gehen, um die Freiheit zu verteidigen. In Puncto Ukraine meint Chris: "Was sollen sie machen? Die Panzer mit Büchern bewerfen? Wegrennen?" Die Antwort bleibt Papa Maik schuldig – wenn man mal von seinem Engagement für anarchistische Gruppen absieht.

Andersherum starrt Maik teils hilflos auf die Gegenwart und die neue nachfolgende Generation, in der Andrew Tate und Greta Thunberg zumindest in Bezug auf Israel und Palästina einer Meinung sind. Für Maik erschreckend: "An mir rauschen die Bilder von deinem Account vorbei, Symbole, Memes, Flaggen, tanzende Hunde, schreiende Leute, Krieg, Politiker, Sportler, Prediger, Musiker, Bushcrafter, Siedler, eine Frau mit Blut am Hosenboden wird an den Haaren aus dem Kofferraum eines Autos gezerrt und auf den Rücksitz befördert, eine Oma wird auf einem Moped verschleppt, ein Typ hält ein totes Baby in die Luft, aschgrau vor Staub … Die Zeit verklumpt und verzerrt sich wie Kaugummi."

Ich gebe noch was gerne zu. Papa Maik ist nah an meiner eigenen Person (aber nicht identisch). Deswegen bin ich der Ansicht, dass gerade der "klassische Ansatz, Konflikte auf der Bühne zu verhandeln" mir immer noch genug Möglichkeit liefert, mich und meine Positionen zu befragen, zur Debatte zu stellen. Die Krise des Schreibens für Theater und des Theaters im Allgemeinen wird gefühlt jedes Jahr postuliert. Doch dass diese Krise nicht allein wegen der derzeitigen Kriege, sondern auch "der damit einhergehenden Debatten" ausgebrochen sein soll, hat mich dann doch sehr erstaunt. Gerade das Führen einer solchen Debatte lässt Dramatik doch zu – sofern man Konflikte auf der Bühne verhandelt.

Dirk Laucke studierte Psychologie an der Universität Leipzig und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Er schreibt für Theater, Film und Hörspiel und führt gelegentlich auch Regie. Sein erster Roman erschien 2015. Für "alter ford escort dunkelblau" erhielt er 2006 den Kleist-Förderpreis für junge Dramatik, 2009 den Förderpreis zum Lessingpreis des Freistaates Sachsen. 2010 folgte der Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI und 2011 die Verleihung des Georg-Kaiser-Förderpreis des Landes Sachsen-Anhalt. (Foto Karoline Bofinger)