Zirkus aus Schmerz

März 2024. "Bomb" der israelischen Autorin Maya Arad Yasur berichtet von Menschen im Krieg. Ist das Stück nach dem 7. Oktober 2023 dringlicher geworden? "Es ist immer aktuell", sagt Sapir Heller. "Leider." Im Interview berichtet die Regisseurin, deren Inszenierung für den Nachspielpreis nominiert ist, wie sie als Künstlerin Kriegstraumata bearbeitet.

Ein Gespräch mit Sapir Heller.

Sapir Heller, ist es gerade für eine jüdische Israelin nicht seltsam, ausgerechnet in Deutschland am Thema der "verdeckten Traumata" zu arbeiten?

Sapir Heller: Ich führe gerade in meinem Team tiefe Gespräche und spüre, was wir alle, eben auch Deutsche, für große vererbte Traumata mit uns herumtragen. Es ist spannend, danach zu fragen – denn meist tut man das nicht. Einmal angesprochen, kommt sehr viel hoch. In Israel selbst ist es natürlich noch einmal spezieller. Da gibt es nicht nur vererbte Traumata, sondern auch das kollektive Trauma des Holocaust, selbst wenn es in einer Familie keine unmittelbaren Opfer gibt. Da ist das Trauma nicht nur vererbt, sondern auch "sozialisiert".

Warum sind Sie 2008 von Israel nach Deutschland gekommen?

Sapir Heller: Nach Deutschland gekommen bin ich wegen der Liebe. Wäre mein Freund Italiener gewesen, wäre ich nach Italien gegangen. Aus Israel wollte ich aber ohnehin weg. In meinem letzten Jahr in Israel habe ich in einer jüdisch-arabischen Theaterkommune in Haifa gelebt. Das Projekt hieß "Nemashim", auf Deutsch: Sommersprossen. Es war mein Freiwilliges Soziales Jahr, denn ich bin in Israel nicht zum Militär gegangen. Ich hatte deswegen viel Druck, das war emotional belastend. Ich würde es als eine Art "kulturelle Flucht" bezeichnen. In Deutschland habe ich dann erst als Au-Pair-Mädchen gearbeitet und dann Regie studiert. Die zwei Kinder, die ich betreut habe, waren gute Deutschlehrer.

Wäre in Haifa ein Projekt wie "Nemashim" heute noch möglich?

Sapir Heller: Leider hat sich das Projekt inzwischen aufgelöst. Auch wenn Haifa immer als eine "gemischte" jüdisch-arabische und tolerante Stadt galt, waren Begegnungsmöglichkeiten auch damals sehr gering, Israelis und Araber leben in komplett unterschiedlichen Systemen. Doch wir haben in der Kommune alles geteilt, auch das Geld. Wir haben Theaterprojekte erarbeitet, auf hebräisch oder arabisch oder ganz ohne Sprache, oft im öffentlichen Raum, auch mit Kindern und Erwachsenen aus den Communities. Eine tolle, sehr wichtige Zeit – wir haben einen Begegnungsraum geschaffen in einer Gesellschaft, in der sich arabische und israelische Menschen sonst kaum begegnen. Menschen, die Menschen kennenlernen.

Wie fühlen Sie sich als jüdische Künstlerin in Deutschland seit dem 7. Oktober?

Sapir Heller: Das ist für mich die schwierigste Frage momentan: Wie fühlst du dich. Ich habe nach dem 7. Oktober das Gefühl, dass mein eigener Körper ein reales traumatisches Erlebnis durchlitten hat, und ich versuche die ganze Zeit zu verarbeiten. Dabei hilft mir die Kunst, das Theater – ein großes Geschenk. Doch der Prozess dauert an. Immer wieder beschreiben zu müssen, wie es mir geht, ist nicht einfach. Schlimmer ist nur, wenn ich nach meiner Position gefragt werde. Klar, ich habe meine politische Haltung. Aber ich bin noch mitten in der Verarbeitung meiner Gefühle. Oft merke ich inneren Widerstand, wenn ich dazu gedrängt werde, mich zu erklären, etwa meine Existenz in Deutschland. Oder die Handlungen der israelischen Regierung. Ich bin aber nicht Bibi, ich bin nicht Israel. Die Hamas-Taten zu verurteilen, heißt nicht automatisch, pro Siedlungsbau und gegen einen palästinensischen Staat zu sein. Viele Leute denken das, denken schwarz-weiß, ohne Zwischentöne. Ich fühle mich gerade als Projektionsfläche für Probleme anderer Menschen und ihre nicht aufgearbeitete Geschichte. Aber ich bin ich, ich mache gerade etwas durch, und ich hätte gern Platz und Empathie dafür. Zum Glück kann ich diese Komplexität an Gefühlen auf der Bühne verarbeiten, rede ganz viel darüber. Das hilft mir, und im Glücksfall hilft es auch dem Publikum.

TL 2022 23 BOMB 08 6502 c Stefan Loeber low resKriege wandern, aber sie sind ständig irgendwo. © Stefan Löber

Und wie fühlt es sich konkret als jüdische Künstlerin an, speziell im so polarisierten deutschen Kulturbetrieb zu arbeiten? Zwischen Absagen, Entlassungen, Offenen Briefen, Störungen, Gebrüll?

Sapir Heller: Ich spüre bei Kulturinstitutionen: Entweder traut sich jemand was und ist ganz radikal – dann kann ich entscheiden, ob ich bei dieser Haltung dabei bin, und bin selbst komplett einseitig. Oder eine Institution hüllt sich in Schweigen. Das ist nicht minder gefährlich. Ich fühle mich dadurch im Stich gelassen. Das ist ein schweres Gefühl von Einsamkeit. Ich erwarte nicht von Leuten, weder in der Gesellschaft noch in der Kunst, dass sie Solidarität zeigen mit der israelischen Regierung. Aber ich fordere, dass Solidarität gezeigt wird mit Menschen. Mit mir. So kitschig es klingt, ich fordere das von der Gesellschaft, in der ich lebe. Und so habe ich es mir ein wenig zur Aufgabe gemacht, dies Menschen offen ins Gesicht zu sagen. Dass sie sich einsetzen sollen für die Menschlichkeit. Ich toure gerade mit meiner Performance "Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten", ebenfalls von der Autorin Maya Arad Yasur, durch Deutschland. Alle Theaterhäuser, die ich dafür kontaktierte, sagten zu. Anders war es im Privatleben: Nicht alle Freunde wussten nach dem 7. Oktober, ob sie sich melden sollen oder nicht. Dabei ist das für mich gerade existentiell wichtig. Mich erschreckt der Gedanke, dass es keinen Fleck auf der Erde gibt, wo ich und meine Familie sich sicher fühlen können. Weder in Israel, sicher nicht, und auch nicht mehr in Deutschland. Ein Sicherheitsgefühl kommt momentan allein durch Leute zustande, die sich melden. Eigentlich eine Kleinigkeit, aber für mich bedeutet sie Solidarität.

Das Stück "Bomb" von der israelischen Autorin Maya Arad Yasur wurde 2020 geschrieben. Hat es sich durch die heutige Weltlage, nach dem 7. Oktober, überholt? Oder ist es umso dringlicher geworden?

Sapir Heller: Das Stück ist immer aktuell. Leider. Das schätze ich an der Autorin so sehr: Sie verortet die Handlung nicht. Dadurch wird die Sicht gelenkt auf innere Konflikte in einer Krisenlage. Kriege wandern, aber sie sind ständig irgendwo. Im Untertitel heißt es ja: Variationen von Verweigerung. Es dreht sich um die universelle Frage, ob du, wenn du Teil eines Systems bist, eigenständig moralisch handelst und denkst.

Es geht in "Bomb" um konkrete moralische Konflikte. Würdest du etwa eine Bombe auf einen Kindergarten werfen, wenn du wüsstest, dass Hitler dort umgebracht werden könnte? Hätte der Soldat die Bombe geworfen, wenn er gewusst hätte, dass dabei ein unschuldiger Vater ums Leben kommt? Ich habe in der Inszenierung auch Hinweise auf persönliches moralisches Handeln im Holocaust gelesen. Einmal kippen die Figuren choreografisch Konservendosen aus. Ich musste an Zyklon B denken. War dieses kleine, krasse Bild Absicht oder war dies mein ererbtes Schuld-Trauma?

Sapir Heller: Interessant. Daran habe ich tatsächlich nicht gedacht. Aber ich finde es schön, das zu hören, weil ich in meiner Inszenierung versucht habe, einen Raum zu schaffen, der assoziativ funktioniert. Denn es geht in dieser universellen Krisensituation eben auch um die Kunst, und die Frage beschäftigt mich als Künstlerin von Anfang an: Was ist die Kraft der Kunst in all diesen politischen Katastrophen auf der Welt? Was kann Kunst, was Realität nicht kann? Auch im Stück ist die Rede von der Künstlerin Naomi, die mit Hilfe von Kunst versucht, ihre Traumata zu verarbeiten. Ich habe auf die Bühne ein großes, buntes Lama gestellt. "Lama" bedeutet auf Hebräisch „Warum“ und stellt also genau diese Frage einmal auf die Bühne. Wir hören persönliche Konflikte von einem Piloten im Einsatz, von einem Kind, dessen Vater von Bomben getötet wird, von der Künstlerin, die sich die Haare ausreißt und damit ihr Kunstwerk gestaltet. Über allem steht das Warum-Tier. Warum führen wir überhaupt Krieg? Es wird nicht beantwortet, aber ich finde wichtig, diese Frage buchstäblich in den Raum zu stellen. Sie wird zu oft vergessen.

Allerdings distanzieren sich Inszenierung und Stück auch von der Kunst. Immer wieder wird die Art und Weise des Kunstbetriebs kritisiert, sich der Weltkrisen zu bemächtigen, um sich mit dem Dokumentarischen Relevanz zu erkaufen. Wie siehen Sie die Rolle der Kunst in Ihrer Inszenierung?

Sapir Heller: An der Kunst wird im Stück kritisiert, dass sie manchmal eine Blase bleibt. Was bringt sie uns, außer ein paar schöne Bilder gezeigt zu haben? Natürlich schreibt Maya Arad Azur das mit Augenzwinkern, denn ich glaube, dass sie in Wirklichkeit an die Kunst glaubt. Für mich ist ein guter Theaterabend einer, der nicht mit dem Applaus endet. Wenn ich schaffe, Fragen auszulösen, die außerhalb des Theaterraums diskutiert werden. Ich arbeite daran, dass es Theater schafft, aus den eigenen Grenzen zu springen. Ob ich damit die Welt ändern werde – ich weiß es nicht. Aber wenn ich nur in den Köpfen ein klein wenig ändere, ist es gelungen.

TL 2022 23 BOMB 04 5831 c Stefan Loeber quer low resEin Theater schaffen, dessen Fragen auch außerhalb des Bühnenraums diskutiert werden. © Stefan Löber

Das Stück besteht aus vielen Erzählsträngen. Wie verknüpft man sie als Regisseurin zu einer verständlichen Erzählung?

Sapir Heller: Mir war von Anfang an wichtig, drei ganz klare Erzählergruppen wie Inseln auf der Bühne zu gruppieren. Die Geschichte des Piloten auf der einen Seite, das ist diese Maschine aus Zuckerwatte. Die Geschichte vom Kind, dessen Vater getötet wird, auf der anderen Seite mit den Dosen. Die Geschichte von Naomi mit dem Warum-Lama in der Mitte. Nach und nach vermischen sich die Ebenen. Die Figuren im Stück sind komplex und widersprüchlich. Sie sind nicht wie Figuren geschrieben, sondern eher wie Stimmen, die Figuren entwerfen.

Macht die Inszenierung am Ende nicht auch genau das, was sie kritisiert? Also: Bedient sie sich eines Themas, um Aufmerksamkeit anzuziehen?

Sapir Heller: Vielleicht. Es ist einfach ein Mittel, das ich liebe: am Theater Unterhaltung zu liefern, mit viel Musik, Humor, Musikalität in der Sprache. Und dadurch Reibung zu erzeugen mit schmerzhaften Themen. Einen Effekt zu erzeugen, dass man es genießt und der Kopf protestiert. Moment mal, warum genieße ich gerade diese Kriegsgeschichte? Ein Freund sagte mir mal: Sapir, du machst immer Zirkus aus deinem Schmerz. Diese Beschreibung gefällt mir. Mein "Zirkus" lacht den Schmerz nicht aus, im Gegenteil, er bringt Auseinandersetzung und Aufarbeitung, ist wie eine Therapie. Und das habe ich bei "Bomb" versucht: eine Bandbreite der Gefühle zu erzeugen. Man kann sich erfreuen, aber die Fragen auch an sich ranlassen, gespannt und angespannt sein. Angst haben und mitlachen.

Das Gespräch führte Dorothea Marcus.

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