Menschen beobachten

März 2024. Raphaela Bardutzkys "Fischer Fritz" war 2021 für den Preis des Heidelberger Stückemarkts nominiert, später inszenierte Enrico Lübbe am Schauspiel Leipzig eine vielbeachtete Uraufführung des "Sprechtheaters". David Bösch wählt am Landestheater Linz einen ganz anderen Ansatz – und ist mit seiner Inszenierung dieses Jahr für den Nachspielpreis in Heidelberg nominiert.

Ein Gespräch mit David Bösch.

David Bösch, wenn man ein Stück nachspielt, wie geht man da vor? Haben Sie sich die Uraufführung von Raphaela Bardutzkys "Fischer Fritz" am Schauspiel Leipzig angeschaut?

David Bösch: Nein, ich tendiere eher dazu, mir sowas nicht anzuschauen. Aber das ist gar nicht unbedingt Kalkül – bei "Fischer Fritz" hatte ich durch die Beschreibungen der Uraufführung das Gefühl, dass ich eine Ahnung bekomme, auf welchen Aspekt des Stücks die in Leipzig eingegangen sind: nämlich auf die Sprechpartitur, auf die Sprache. Sie haben zum Beispiel die Figur des Fritz nicht als alten Mann besetzt, sondern ihn auf verschiedene Schauspielerinnen verteilt, die möglichst weit weg sind von einem alten, oberbayerischen, weißen Fischer. Dann gab es auch noch die Österreichische Erstaufführung in Graz, die fand in einem ganz kleinen Raum statt, sehr untheatral. Im Gegensatz dazu wollten wir in die Psychologie des Stücks reingehen, in die Figuren, in eine Situation, die auch etwas mit Atmosphäre, mit lokaler Zeichnung zu tun hat. Wir wollten in die Surrealität gehen, in die Bilder, auch stark in die Atmosphäre der Sprachlosigkeit, der Ohnmacht, des Aufeinandertreffens zweier Figuren, die nicht miteinander umgehen können, die erst einmal eine Sprache miteinander finden müssen.

Vorsicht! Fritz kommt nicht aus Oberbayern, der ist Niederbayer!

David Bösch: Stimmt. Ich komme mit Ober- und Niederbayern manchmal durcheinander, ebenso wie mit Ober- und Niederösterreich. Wobei Niederösterreich nicht mit dem schönen Oberösterreich, seiner wunderbaren Landeshauptstadt Linz und seinem schönen Theater zu vergleichen ist. (lacht) Für uns in Oberösterreich war auch interessant, dass das eine ähnliche Region ist, bis hin zum Dialekt gibt es gewisse Überschneidungen. Entsprechend hat man in Linz das Gefühl, dass einem diese Menschen irgendwie bekannt sind: der alte Fischer, das Knorrige, das Eigene, das Verschwiegene. Und dahinter verbirgt sich eine große Einsamkeit.

Raphaela Bardutzky hat dem Stück vorangestellt, dass es "Sprechtheater" sei, analog zum Musiktheater. Das passt zu Ihnen, Sie sind ja auch ziemlich erfolgreich als Opernregisseur. Aber Sie gehen ganz weg von dem Gedanken einer Partitur – Sie zeigen drei Menschen, die direkt der Realität entnommen zu sein scheinen.

David Bösch: Das ist für mich die Qualität des Stücks. Ich war ja auch schon voriges Jahr in Heidelberg eingeladen, mit Lisa Wentz’ "Adern" vom Burgtheater Wien. Sowohl Lisa Wentz als auch Raphaela Bardutzky sind junge Autorinnen, die formal streng arbeiten, aber die beide auch einen starken biografisch-politischen Auftrag verspüren, den sie dann in Geschichten umwandeln. Und beide schreiben wirklich starke Figuren. Ich finde es immer schade, wenn es keine Figuren gibt – und das hat man ja leider manchmal, wenn man zeitgenössische Dramatik inszeniert. Über Menschen zu erzählen, Menschen zu beobachten, das ist doch etwas sehr Feines!

fischers fritz hp0 Herwig PRAMMER B7A0237 low res"1200 netto, samstags habe ich frei." – So klingt der Pflegenotstand in "Fischer Fritz". © Herwig Prammer

Ihre Inszenierung steigt so ein, wie man es erwartet: Da stehen drei Figuren in einem dunklen Raum und sprechen ins Publikum. Aber plötzlich fährt ein ganz realistisch gezeichnetes Krankenzimmer in den Raum hinein, und mit einem Schlag dreht sich die Inszenierung einmal um die eigene Achse, wird zu starkem Bühnenrealismus. Das ist ähnlich wie voriges Jahr bei "Adern". Sie interessieren sich für realistische Darstellung, oder?

David Bösch: Irgendwie schon. Das hat auch mit Stille und mit Zeit zu tun, es dauert eben, Fisch zu schneiden. Und man muss sich die Zeit nehmen, Realismus zu zeigen. Das heißt nicht, dass man unbedingt zeigen muss, wie 30 Minuten lang eine Windel gewechselt wird. Aber man weckt in der richtigen Dosierung ein Bild beim Publikum, das hinter dem realistischen Vorgang liegt. Allerdings, ohne es komplett in anklagende Polemik zu überführen. Vor so einer Polemik kann man auch zurückschrecken. Es geht darum, eine gewisse Balance zu halten: die Unaushaltbarkeit so zu gestalten, dass sie etwas wachruft. Bei „Fischer Fritz“ war uns klar, dass man die erste Szene als Sprachpartitur inszenieren muss. Aber dann haben wir gesagt: Lass uns in den Realismus wechseln, lass uns das Genre freikippen.

Neben dem Ort, der niederbayerischen Provinz, ist die Sprache für die Figuren wichtig. Die Pflegerin Piotra spricht nicht perfekt Deutsch, sie verfällt immer wieder ins Polnische. Der Pflegefall Fritz spricht heftigen Dialekt und hat darüber hinaus eine Sprachbehinderung. Und Franz, Fritz’ Sohn?

David Bösch: Für den spielt die Sprache gar keine so große Rolle. Bei der Beziehung zwischen Vater und Sohn ist eher die Sprachlosigkeit zwischen den beiden wichtig. Piotra und Fritz sind zwei Menschen, die nicht die gleiche Sprache sprechen, die haben beide eine Art von Sprach-"Behinderung", weil sie der Sprache nicht mehr oder noch nicht richtig mächtig sind – und sie müssen versuchen, eine Beziehung aufzubauen. Zwischen dem Vater und dem Sohn dagegen liegt ein ganzer Kontinent der Sprachlosigkeit, der sich nur im Brettspiel auflöst. Das kenne ich aus meiner eigenen Familie in Ostwestfalen: Das Brettspiel führt zu einer deutlich erhöhten Kommunikation, zum Lachen und zum Ärgern. Das fand ich bei diesem Stück schön – dass das da genauso ist.

"Fischer Fritz" wird verhältnismäßig häufig inszeniert, oft in mittelgroßen Städten – es gab noch Inszenierungen in Kaiserslautern, in Paderborn … Anscheinend holt das Stück die Menschen ab.

David Bösch: Schon das Thema "Pflege" ist eines, das viele Menschen betrifft. Fast jeder Zuschauer hat jemanden in der Familie, der gepflegt wird, oder er steht selbst kurz vor dieser Situation. Das ist ein gesellschaftlich sehr relevantes Thema. Aber Raphaela Bardutzky lässt keinen Chor aus 20 echten Pflegerinnen auftreten, die skandierend den Pflegenotstand ausrufen – den gibt es, über den sind wir auch alle informiert. Sondern nach 70 Minuten beschreibt Piotra ihre Situation: "1200 netto, samstags habe ich frei." Die Betroffenen sehen das – und fühlen sich empathisch, verstanden, empowered.

fischers fritz hp0 Herwig PRAMMER P5 1341 low resWiderstandsfähigkeit durch Phantasie – Nele Christoph (Mitte) als Pflegerin Piotra. © Herwig Prammer

In dem Stück liegt aber auch eine Bedrohung. Ganz am Ende spricht Piotra es auch aus. Als Franz sich ihr nähert und sagt, dass er ihr die Haare schneiden möchte, denkt sie: "Jetzt bringt er mich um!"

David Bösch: Wenn man aus einer fremden Welt nach Niederbayern, nach Oberösterreich, nach Ostwestfalen oder ins Rhein-Neckar-Gebiet kommt, dann ist das alles bedrohlich. Piotra verfügt über eine ausgeprägte Phantasie, und diese Verbindung von Fremdheit und großer Phantasie erzeugt Angst. Während Freiheit und große Phantasie vielleicht Kunst erzeugt. Außerdem versteht sie die Sprache nicht, sie ist auf engstem Raum mit zwei Menschen, von denen sie letztlich abhängig ist. Sie ist Franz und Fritz ausgeliefert – der Bus fährt nur einmal die Woche zurück, wenn überhaupt. Und das ist angstbedrohlich. Bei uns hat das einen poetischen Humor, und das hat viel mit Nele Christoph zu tun, die die Piotra spielt. Wir haben sie als Gast ans Landestheater Linz engagiert, weil sie eine ganz eigene Art der kaurismäkischen Verlorenheit hat bei gleichzeitiger Widerstandsfähigkeit durch die Phantasie. Und dann gibt es noch die Unkontrollierbarkeit der zunehmenden Zerrüttung des Körpers und der Psyche eines alten Mannes – ich finde, das kann einem auch Angst machen. Als Regisseur fragt man sich da: Wie weit geht man? Zeigt man das Windelwechseln über eine halbe Stunde? Oder lässt man es in der Balance? Wir haben uns immer entschieden – und ich glaube, das ist gemäß des Stücks – es in der Balance zu lassen. Vielleicht ist das auch der Grund, weswegen "Fischer Fritz" gerne in diesen mittelgroßen Städten gespielt wird: In Großstädten heißt es immer, bei ihnen dürfe man alles machen, man könne Zwölf-Stunden-Theater machen, alle gucken sich das an. Aber ich weiß gar nicht, ob das so stimmt. Vielleicht ist die Mittelstadt da empfänglicher. Ich möchte wirklich eine Lanze für die Mittelstädte brechen. Dort konfrontieren sich die Menschen sehr stark mit den Themen der Welt, mit ihren menschlichen Themen.

Schönes Schlusswort.

Das Gespräch führte Falk Schreiber.

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