Tragödienbastard – Ewe Benbenek
Die Wut hinter dem scheiß Narrativ
März 2024. Eine junge Frau zwischen zwei Orten, zwei Ländern, zwei Welten. In "Tragödienbastard" verhandelt Ewe Benbenek den Kampf um Selbstbestimmung auf kulturell fluidem Terrain. 2021 gewann die Autorin den Mülheimer Dramatikpreis. Nun ist die Inszenierung von Emel Aydoğdu am Theater Konstanz für den Nachspielpreis des Heidelberger Stückemarktes nominiert.
Ein Gespräch mit Emel Aydoğdu.
Emel Aydoğdu, es kostet Mut, ein interessantes zeitgenössisches Stück nachzuspielen, statt sich in den Wettlauf um Uraufführungen zu stürzen. Dass man damit oft unter dem Radar der überregionalen Medien bleibt, darf einen nicht von der Entscheidung für ein Stück abhalten, das einem am Herzen liegt. Wie ist das in diesem Fall zustande gekommen? Wollte das Theater Konstanz "Tragödienbastard" machen und hat dann nach einer Regisseurin gesucht? Oder kam der Vorschlag von Ihnen?
Emel Aydoğdu: Das Theater hatte mich eingeladen, eine Inszenierung auf der Werkstattbühne zu machen. Welches Stück, war noch nicht klar. Da ging es zunächst hin und her: Was stelle ich mir vor? Was stellen die sich vor? Irgendwann hat die Dramaturgin "Tragödienbastard" in den Raum geworfen. Ich kannte das Stück noch nicht, habe es gelesen und mich direkt in den Text verliebt, in die Struktur, die Sprache, in die Art und Weise, wie Ewe Benbenek die Dinge formuliert. Ich dachte: Okay, da werden Gedanken auf der Bühne ausgesprochen, die ich selber habe, die man aber sonst vielleicht nur im stillen Kämmerlein denkt. Ich war sehr, sehr fasziniert und habe sofort gesagt: Das will ich machen.
Der Text klingt so, als wären es die verschiedenen Stimmen einer einzigen Frau, die sich selbst infrage stellt, widerspricht, sich selber Mut macht, sich zu wehren. Gab es Überlegungen, einen Monolog daraus zu machen?
Emel Aydoğdu: Ja, aber ich wusste gleich, dass ich es mit drei Schauspielerinnen machen will. Es gibt im Text Stimmen, die "A", "B" und "C" heißen. Und es gibt chorische Stellen. Für einen Chor braucht man auf jeden Fall mehr als eine Person. Ewe Benbenek hat es, glaube ich, sehr bewusst Tragödien-Bastard genannt. Eine Tragödie hat immer eine gewisse feste Form, steht in einer großen Tradition. Beim Chor denkt man an die griechischen Tragödien. Es ist eine sehr mächtige Art zu schreiben, aber wenn man sich den Text blank durchliest, ist er vielfach gebrochen. Die Sätze sind verteilt, laufen gegeneinander, es gibt tausende Wiederholungen; es gibt Gedankengänge, die sich in andere Richtungen entwickeln und dann wieder zurückkommen. Die Sprache ist mächtig und kraftvoll – und dann wieder verspielt und sarkastisch. Für mich mussten es auf jeden Fall verschiedene Stimmen sein.
"Bastard" nennt man das uneheliche Kind eines gesellschaftlich hochgestellten Vaters und einer Mutter aus sogenanntem "niedrigeren Stand". Wenn also die Tragödie quasi der hochangesehene Vater dieses Textbastards wäre, wer wäre in Ihrer Lesart die Mutter?
Emel Aydoğdu: Als Mutter könnte man die alltägliche Erfahrung der Menschen sehen, um die es im Stück geht. Die Dramen des Alltags werden ja als niedrig gelesen, im Gegensatz zu den "großen" Konflikten in den Tragödien. In Ewes Stück haben die gelebten Erfahrungen der Menschen genauso viel Gewicht wie die klassischen Mythen, die auch drinstecken. Man könnte sie als Mutter dieses "Bastards" betrachten.
Die alltäglichen Erfahrungen, um die es geht, sind die einer jungen Frau, die als Kind nach Deutschland gekommen ist; die als Tochter einfacher Arbeiter den Aufstieg geschafft hat, trotz aller Verletzungen und Demütigungen; und die jetzt darum kämpft, jenseits der Zuschreibungen, in die man sie hineinpressen will, eine eigene Sprache zu finden. Zwischen Ihrer Biografie und der von Ewe Benbenek gibt es viele Berührungspunkte. Aber die drei Schauspielerinnen scheinen einen ganz anderen Hintergrund zu haben. Wie sind Sie damit umgegangen?
Emel Aydoğdu: Wir hatten eine sehr, sehr schöne Zeit auf den Proben, weil ich gleich gemerkt habe, dass die Kolleginnen sehr feinfühlig, sehr sensibel sind, was diese Themen angeht. Sie haben gefragt: Ist es überhaupt gerecht, dass wir diesen Text sprechen? Ich habe sie ermutigt und gesagt: Es ist toll, dass ihr das macht. Ihr seid die Künstlerinnen, die Vermittlerinnen, durch euch wird diese Geschichte an die Zuschauenden übertragen, hier, in diesem Konstanzer Raum, der ein sehr privilegierter Raum ist. Ich erzähle diese Geschichte – mit euch, durch euch. Ewe erzählt diese Geschichte mit euch. Ihr seid nicht allein.
Die drei wirken so ehrlich und direkt, als ob sie von ihrem eigenen Leben erzählen würden. Wie haben Sie erreicht, dass die Spielerinnen so ein intuitives Verständnis für Situationen entwickelt haben, mit denen sie selbst nie konfrontiert waren?
Emel Aydoğdu: Ich habe ihnen einfach viel von mir erzählt. Ich bin genau wie die Frau im Stück als sechsjähriges Kind nach Deutschland gekommen und konnte durch die Schule bald besser Deutsch als meine Eltern. Ich habe versucht zu beschreiben, wie es ist, wenn man als Kind plötzlich ganz viel Verantwortung für die Familie übernehmen muss. Man ist dann die Übersetzerin, die Koordinatorin der Dinge, die, die weiß, wo es langgeht. Dabei ist man aber noch ein Kind. Da ist auch dieses Hadern, zwischendurch, diese Scham. Ich will nicht sagen, man schämt sich für seine Herkunft, das ist es nicht. Sondern für die Umstände, dafür, dass alles so holprig ist, irgendwie. Diese Situationen, wo die Familie einen braucht, weil sie etwas nicht allein lösen kann, wo sie eine gewisse Abhängigkeit von einem hat.
Eine Szene, die im Stück vorkommt, habe auch ich erlebt: Die Eltern werden in die Schule zitiert, weil das Kind zu langsam ist und noch nicht so gut Deutsch spricht. Deshalb fordert die Lehrerin die Eltern auf, dass sie, um dem Kind zu helfen, zuhause am besten nur noch Deutsch sprechen sollen. Was für ein Deutsch lernt man dann zu Hause? Die Eltern können es doch selbst noch nicht. Das ist ja gerade wieder eine aktuelle Debatte. Manche Politiker und Politikerinnen sagen: Wer nicht Deutsch spricht, der soll gar nicht zur Schule zugelassen werden. Das würde bedeuten, dass man Menschen ausgrenzt. Das ist rassistisches Gedankengut. Ich finde es unheimlich wichtig, dass man zu Hause die Muttersprache spricht. Sonst können die verschiedenen Generationen keinen Zugang mehr zueinander finden. Weil man die beiden Lebensrealitäten nur noch schwer zusammenbringen kann.
Dieser schwierige Dialog zwischen den Generationen spielt eine große Rolle im Stück. Die Protagonistin fährt immer wieder nach Polen und besucht ihre Oma auf dem Dorf. Obwohl ihr Polnisch mit der Zeit immer schlechter wird und es ihr immer schwerer fällt, der Oma begreiflich zu machen, wie sie lebt. Dass die Oma so eine zentrale Rolle in der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte spielt, ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Ihnen und Ewe Benbenek. Sie haben einen preisgekrönten Dokumentarfilm mit dem Titel "Meine Oma, Meine Wurzel, Meine Heimat" gedreht.
Emel Aydoğdu: Ja, es war mir sehr wichtig, die Geschichte meiner Oma auf die Art festzuhalten. Sie sprach die kurdische Sprache. Als sie in die Großstadt kam, musste sie Türkisch lernen. Und weil einen Kurdisch in der türkischen Mehrheitsgesellschaft in Schwierigkeiten gebracht hat, hat sie es den Kindern gegenüber abgelegt, sodass meine Mutter zwar noch Kurdisch versteht, es aber nicht mehr sprechen kann. Und ich bin jetzt die dritte Generation, ich spreche nicht Kurdisch und verstehe es auch fast gar nicht mehr, es ist nur noch ein vages Gefühl. Dass die Enkelin im Stück nur noch gebrochenes Polnisch spricht, und ich mittlerweile auch gebrochenes Türkisch, sind absolute Parallelen. Aber zwischen den Biografien von Ewes und meiner Oma gibt es auch viele Unterschiede. Ich sage "ihre Oma", obwohl das ein autofiktionaler Text ist. Die Oma könnte also auch eine erfundene Figur sein.
In dem Text steckt auch viel Wut. "Warum bin ich hier die Eine, die die Wut dahinter erklären muss, die Wut hinter diesem scheiß Narrativ?" Fragen Sie sich das auch? Kennen Sie auch diese Wut, die Sie eigentlich gar nicht haben dürften, weil doch jetzt alles gut für Sie läuft – im "goldenen Westen"?
Emel Aydoğdu: Die kenne ich gut. Ich zeige sie vielleicht nicht im Alltag, auch nicht gegenüber meinen Eltern oder dem System. Der Ort, an dem ich von diesen Gefühlen erzählen kann, ist das Theater. Bei Ewe Benbenek ist es ein bisschen anders, ihre Protagonistin ist erschöpft vom Sich-immer-und-immer-wieder-erklären-Müssen. Das ist auch eine wichtige Frage für mich: Warum braucht man uns? Können die Leute nicht auch einmal selbst etwas verstehen? Ohne dass wir, die migrantisch gelesenen Menschen, es ihnen immer und immer wieder erklären müssen?
Sie sind im letzten Jahr steil durchgestartet, zuletzt haben Sie am Maxim Gorki Theater in Berlin inszeniert. In fast allen Ihren Arbeiten geht es dabei um Menschen mit Migrationsgeschichte. Fühlen Sie sich in eine Schublade gedrängt?
Emel Aydoğdu: Ich bin eher wütend, dass es so spät kommt. Es ist ja erst seit Kurzem so, dass Menschen, die jahrzehntelang unterrepräsentiert waren, auf den Bühnen eine Stimme bekommen, und ich hoffe, es ist auch ehrlich gemeint, dass man endlich hören will, was wir zu erzählen haben. Vor 15 Jahren, als ich mich für Regiestudiengänge beworben habe, oder in meiner Zeit am Bochumer Schauspielhaus, an dem ich als Jugendliche sozialisiert worden bin, gab es für mich keine Bühne, auf der ich von meinen Erfahrungen erzählen konnte. Das hat sich alles aufgestaut, sodass ich denke: Jetzt oder nie! Jetzt müssen wir alles auserzählen! Wenn nicht ich, wenn nicht Selen Kara, wenn nicht Pınar Karabulut, wer dann? Ich will das jetzt alles rauslassen, alle Geschichten, Erfahrungen, Gefühle, die ganze Wut, bis ich dann irgendwann sage: Ok! Emel Aydoğdu inszeniert jetzt Schiller!
Danke für das Gespräch und herzlichen Glückwunsch: Gerade ist die Meldung gekommen, dass Sie ab Herbst zum Leitungsteam des Staatstheaters Wiesbaden gehören werden. Viel Glück!
Die Fragen stellte Gabi Hift.
Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
Die ersten hundert Tage von Lars Werner
14:30 Uhr
Brennendes Haus von Anaïs Clerc
16:00 Uhr
2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger von Frankfurter Hauptschule
Zwinger 1
Gastspiel Lichthoftheater Hamburg
JUDEN JUDEN JUDEN
von und mit Hamburger Jüd*innen und Texten von Simoné Goldschmidt-Lechner
Regie: Ron Zimmering und Dror Aloni
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Düsseldorfer Schauspielhaus
My Private Jesus
von Lea Ruckpaul
nach einer Idee von Eike Weinreich
Regie: Bernadette Sonnenbichler
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
präsentiert von Zwinger x
Rahmenprogramm
Eintritt frei
Zwinger 3 und online
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
Ghostbike von Julie Gurgonis
14:30 Uhr
DRUCK! von Arad Dabiri
16:00 Uhr
Kind aus Seide von Leonie Ziem
Gastspiel Theaterhaus Jena
Die Hundekotatacke
von Walter Bart, Hannah Baumann, Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfanenmüller, Anna K. Seidel / Wunderbaum
Regie: Walter Bart
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Schauspielhaus Wien
Die vielen Stimmen meines Bruders
Es Stück für an- und abwesende Körper
von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster
Regie: Marie Bues und Anouschka Trocker
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Theater Bielefeld
else (someone)
von Carina Sophie Eberle
Regie: Nadja Loschky
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Alter Saal
Gastspiel Junges Schauspiel – Düsseldorfer Schauspielhaus
Time to Shine
Tanz und Theaterspektakel von Takao Baba + Ensemble
Inszenierung für schwerhörige und taube Menschen
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Stuttgart
forecast:oedipus
von Thomas Köck
Regie: Stefan Pucher
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Expanded Theater | Hochschule der Künste, Bern
FRONTSTAGE
Männlichkeit zwischen Spiel und Krieg
von und mit Polina Solotowizki, Bogdan Kapon und Ivan Borisov
Regie: Polina Solotowizki
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Theater Konstanz
Tragödienbastard
von Ewe Benbenek
Regie: Emel Aydoğdu
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Fremd
von Michel Friedmann
Regie: Stefan Kimming
Uraufführung
Zwinger 3
Theater und Orchester Heidelberg
Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau 10+
sehr frei nach Hans-Christian Andersen von Roland Schimmelpfennig
Regie: Marcel Kohler
Mülheimer Kinderstückepreis 2023
Alter Saal
Gastspiel Theater Lübeck
BOMB
von Maya Arad Yasur
Regie: Sapir Heller
Zwinger 3
Gastspiel Turbo Pascal, Berlin
Common Things
von Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Regie: Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauburg München
Erik*a 15+
mit Texten von Theresa Seraphin
Regie: Daniel Pfluger und Lukas März
Alter Saal
Gastspiel Landestheater Linz
Fischer Fritz
Regie: David Bösch
Marguerre- Saal
Gastspiel Schaubühne Berlin
In Memory of Doris Bither
von Yana Thönnes
Regie: Yana Thönnes
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
mit Musik aus dem Gastland Georgien
Eintritt frei
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Georgien
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Der weiße Hund von Davit Khorbaladze
14:30 Uhr Terzett von Marita Liparteliani
16:00 Uhr Wer klopft von Alex Chigvinadze
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili und Masho Makshvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Alter Saal
Gastspiel Royal District Theatre, Tblissi
Medea s01e06
von Paata Tsikola
Regie: Paata Tsikola
Georgisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Gastspiel Laboratory of Perfoming Arts, Tblissi
Zwilinge
von Giorgi Maisuradze
Regie: Giorgi Maisuradze
Gergisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Georgien
u.a mit Gastland Kurator Davit Khorbaladze
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili, Masho Makshvili und Elene Matskhonashvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Zwinger 1
Gastspiel Georgian Regional Theatre Networks
Niko Nikoladze - Sergo Parajanov
von Elene Matskhonashvili, Tengiz Khukhia und Levan Khetaguri
Regie: Elene Matskhonashvili
Georgisch nmit deutschen Übertriteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Antropolis II: Laios
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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