Unüberhörbare Warnsignale 

Der 41. Heidelberger Stückemarkt ist zu Ende, die Preise sind vergeben. Zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals wurde der Autor*innenpreis auf zwei gleichstarke Texte bzw. ihre Autor*innen aufgeteilt. Aber auch sonst war es ein starker Festival-Jahrgang. Trotzdem ist die Freude getrübt.

von Georg Kasch

6. Mai 2024. Wenn man zehn Tage lang einen Ohrwurm hat und die dazugehörige Stücke-Lesung vielfältig in einem nachhallt, dann ist das vermutlich ein gutes Zeichen. Theater ist ja nicht nur ein Denk-, sondern auch ein höchst körperliches Fühl-Medium. "2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger"des Künstler*innenkollektivs Frankfurter Hauptschule" liest sich als Sprachspiel in Tabellenform gut. Aber welchen überfordernden Witz, welche Dialog-Lust zwischen den einzelnen Sentenzen sowie gesprochenem und projiziertem Wort entsteht, muss man live erleben. Es sind Momente wie diese, in denen man merkt, wie wichtig die Lesungen beim Heidelberger Stückemarkt (und ihre sorgfältige Einrichtung) sind.

Wettbewerbslesung beim 41. Heidelberger Stückemarkt © Susanne Reichardt

Schnellfeuerdialogsätze

Dennoch war es eine weise Entscheidung der diesjährigen Stückemarkt-Jury (Emre Akal, Cornelia Fiedler, Elvin İlhan, Bernadette Sonnenbichler und Jürgen Popig), den mit 10.000 Euro dotierten Preis zu teilen und neben "2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger" auch Arad Dabiris "DRUCK!" auszuzeichnen. Zum einen, weil die Titel-Sammlung mit ihren vielen Anspielungen auf Hoch- und Pop-Kultur ein ziemlich bildungsbürgerliches Vergnügen und fürs Regietheater nicht viel zu holen ist. Man wünscht sich zahlreiche Inszenierungen. Aber ob das realistisch ist? Zum anderen, weil "DRUCK!"unbestreitbare Qualitäten besitzt, auch wenn sie bei der Lesung nicht so recht zum Tragen kamen. Denn die Gruppe junger Menschen in Wien, die sich hier dazu verhalten müssen, dass einer der ihren vermutlich vor Gericht verurteilt wird, baut eine feine innere Spannung auf, die zum titelgebenden Druck anschwillt. Und das in einer Sprache, die zwischen Poetry Slam und hingerotzt kurzen Schnellfeuer-Dialogsätzen vibriert.

Infrage gekommen wäre auch Leonie Ziems "Kind aus Seide“, eine angenehm leichte Scifi-Komödie über KI-Lebensroboter der (nahen) Zukunft, die ethische Fragen aufwerfen und unser unerlöstes Verhältnis zum Kapitalismus strapazieren, wenn wir mal wieder Liebe mit Konsum verwechseln. Dafür gab’s den mit 5.000 Euro dotierten SWR Hörspielpreis – was auch bedeutet, dass das Stück im nächsten Jahr während des nächsten Stückemarkts im Radio läuft.

Doppelehrung für georgisches Kinderstück

Gleich doppelt geehrt wurde Alex Chigvinadze für sein Kinderstück "Wer klopft?"– mit dem mit 5.000 Euro dotierten Internationalen Autor*innenpreis und dem mit 2.500 Euro dotierten Publikumspreis. Verständlich: Unter der Oberfläche seiner surrealen Komödie mit märchenhaftem Happy End schimmern Ausbeutung, Globalisierungsfolgen und andere Baustellen durch, ohne den (Spiel-)Witz einzutrüben. Und es zeigt "Solidarität als etwas machbares“, wie Jurorin Cornelia Fiedler betonte. Das könnte auch wunderbar auf deutschen Bühnen funktionieren.

Die Entscheidungen der Jugendjury wiederum waren schon öfter etwas rätselhaft. So auch in diesem Jahr. Den mit 6.000 Euro dotierten Jugendstückepreis erhält die multimediale Revue "Erik*a" mit Texten von Theresa Seraphin an der Schauburg München, die deshalb auch im Rahmenprogramm der Mülheimer Theatertage 2025 zu sehen sein wird. Dabei hat Carina Sophie Eberles "else (someone)" sehr frei nach Arthur Schnitzler wesentlich stärkere Stückqualitäten, die eher zum Nachspielen einladen. Und auch die Bielefelder Uraufführungsinszenierung wirkte wesentlich stringenter als das Münchner Revueprinzip.

97 Prozent Auslastung

Die Begrüdnung der Jugendjury allerdings überzeugt, denn das Stück zeige, "dass die Welt weniger diskriminierend und mehr tolerant sein sollte“. Es ist das erste queere Stück des Theaters, das seitdem verstärkt angefeindet wird. Insofern muss man den Preis unbedingt als Ermutigung verstehen: mehr davon! Vollkommen nachvollziehbar wiederum ist der Nachspielpreis für "Fischer Fritz" von Raphaela Bardutzky in der Inszenierung des Landestheaters Linz – die Begegnung mit dem strengen Berliner Publikum bei den Autor:innentheatertagen 2025 wird es sicher bestehen.

Wie diese Inszenierung von David Bösch gab es beim 41. Heidelberger Stückemarkt überhaupt sehr viel gutes, ja hochkarätiges Theater zu sehen, insbesondere unter den Gastspielen der eingeladenen Uraufführungen. So lässt sich auch die Auslastung von 97 Prozent (das macht 10.000 Zuschauer*innen) erklären, wobei besonders beeindruckte, wie voll auch die Lesungen, eher unbekannte Gastspiele und die Nachgespräche waren.

Gefährdeter Ort der Demokratie

Dass Intendant Holger Schultze bei der Preisverleihung das Theater als "Ort des Diskurses, des Widerstands und der Demokratie" beschwor, hätte man normalerweise als Floskel abgenickt. Vor dem Hintergrund aber, dass das Gastspiel von "JUDEN JUDEN JUDEN" nur mit massiver Security und Polizeipräsenz stattfinden konnte und Autor Michel Friedman mit Personenschutz zum Gastspiel seines Stücks "Fremd" anreiste, machte deutlich, dass sich nicht nur in Georgien gerade die Möglichkeitsräume verengen. Autor Lars Werner hat in seinem Wettbewerbsstück "Die ersten hundert Tage" durchgespielt, welche Folgen etwa eine rechtsextreme Regierung für Minderheiten in Deutschland hätte.

Die Warnsignale beim 41. Heidelberger Stückemarkt waren zahlreich. Wenn wir sie überhören, wird sich nicht nur die Dramatik der Zukunft gravierend verändern.

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Mehr dazu: Im letzten Video-Blog gibt es Eindrücke von der Preisverleihung.