Theater der Synthesen 

Tblissi, im Februar 2024. Das Theater in Geogien vereint Enflüsse verschiedenster Kulturen, was sich der besonderen Lage des Landes zwischen Europa und Asien verdankt. Im 20. Jahrhundert wurde es stark von Theatererneuerern um den Stanislawski-Schüler Kote Marjanischwili geprägt, aber auch vom konfliktreichen Ringen um kulturelle Eigenständigkeit in der Sowjetunion. Das Ringen um Eigenständigkeit hat auch nach der Unabhängigkeit 1991 kaum an Intensität verloren – auch wenn das Theater sich speziell in den letzten Jahren stark Richtung Europa orientiert.

Von Lela Ochiauri

Die Kultur hat sich in der langen Geschichte Georgiens stets an historischen Scheidewegen ausgebildet. Freiwillig und unfreiwillig (etwa als Folge seiner Besetzung durch fremde Mächte) unterhielt Georgien Beziehungen zu einer Vielzahl von Ländern zwischen Europa und Asien, die einen bedeutenden Einfluss auf Kultur und Gesellschaft hatten. Seit dem 18. Jahrhundert war Georgien Teil des Russischen Reiches, danach gehörte es 70 Jahre lang zur Sowjetunion.

Das Rustaveli-Theater im der georgischen Hauptstadt Tblissi © Rustaveli Theater

Dies hat die freie Entfaltung von Gesellschaft und Kunst erheblich behindert. Georgien war von der Weltöffentlichkeit abgeschnitten, bis es 1991 infolge des Zusammenbruchs der UdSSR seine Unabhängigkeit erlangte. Diese Unabhängigkeit entwickelte sich, veränderte sich, nahm Gestalt an. Dann wieder hielt sie inne und erstarrte ebenso wie das politische, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und allgemeine Leben des Landes, um sich bald darauf dann doch wieder weiter zu bewegen und zu entwickeln.

Überall auf der Welt sind Theater in den städtischen Zentren stets auch Symbole für die jeweilige Landeskultur. In Georgien nehmen mehr als 53 staatliche, professionelle und öffentliche Theater, Schauspielhäuser, Opernhäuser und Puppentheater in verschiedensten Städten zentrale Plätze ein. Darüber hinaus gibt es "vorstädtische", unabhängige Theater und Wanderbühnen ohne Gebäude. Die ältesten Theaterformen (wie rituelles Schauspiel, improvisiertes Maskentheater, das sogenannte Berikaoba-Keenoba oder dionysische Mysterien) existieren in Georgien bereits seit mythischer Vorzeit. Hier sollte man auch wissen, dass Medeas Heimat Kolchis auf dem Gebiet des heutigen Georgien liegt und Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte, zur Strafe von den griechischen Göttern an einen Felsen im (heute georgischen Teil des) Kaukasus gekettet wurde.

Zur Frühgeschichte des georgischen Theaters

Das Amphitheater (3.-2. Jh. v. Chr.) von Uplistsikhe – "die Festung des Fürsten" im Felsen – legt Zeugnis davon ab, dass es Theater auf georgischem Gebiet bereits seit der Antike gibt. Dies wird auch durch archäologische Ausgrabungen belegt – Theatermasken, Statuen von Dionysos und Satyrn, Mosaiken, die Theaterrituale und antike Theaterszenen abbilden. In der antiken Stadt Afsarunt in der Region Gonio-Afsaros, einer Küstenregion Georgiens, geht die Existenz des römischen Theaters auf das 5. Jahrhundert v. Chr. zurück. Der bedeutende georgische Historiker Simon Janashia (1900-1947) berichtet, dass es sich um "eine der ältesten Städte von Kolchis" handelte, die laut Procopius von Caesarea "mit einem Theater und einem Hippodrom geschmückt war".

Im 11. und 12. Jahrhundert entstanden königliche Hof- und weltliche Theater. Es bildete sich mit Sakhioba eine Theaterform heraus, deren zentrales Merkmal die Einheit von Musik, Deklamation und Choreografie gewesen ist. Im 18. Jahrhundert wurden in Telawi, der Thronstadt von König Erekle II., die ersten drei professionellen Theatercompagnien im Kaukasus gegründet. Die erste Aufführung fand hier 1761 statt. Die Mitglieder der Compagnien waren junge, in Russland und Europa ausgebildete Menschen und Vertreter des königlichen Hofes: Gabriel Maijori (Areschaschwili), Giorgi Avalischwili und David Matchabeli (Matchabela). Alle kamen 1775 in der Schlacht gegen die Armee von Agha Mohammad Khan Qajar um, nahe des Dorfs Krtsanisi, womit die Geschichte des ersten professionellen georgischen Theaters wieder beendet war.

Erst im 19. Jahrhundert bildeten sich in aristokratischen Salons wieder Gruppen von Theaterliebhabern. 1845 eröffnete das russische Theater, am 14. Januar 1850 wurde schließlich auch das professionelle georgische Theater unter der Leitung des georgischen Dramatikers Giorgi Eristavi mit der Aufführung seiner eigenen Komödie "Die Familiensiedlung" wiederbelebt. Sechs Jahre später schloss es allerdings schon wieder. 1879 wurde schließlich die "Ständige Bühne" eröffnet, 1898 das "Haus der Künstlerischen Gesellschaft" in Betrieb genommen, das die Grundlage für die Gründung von Georgien bekanntester Bühne wurde, dem Rustaveli-Theater.

Im 20. Jahrhundert

Die Geschichte des modernen georgischen Theaters beginnt im 20. Jahrhundert mit der Sowjetisierung Georgiens in der Folge der Oktoberrevolution und ist eng mit der Arbeit von zwei Theaterreformern verbunden: Kote Marjanischwili (1872-1933) und Sandro Achmeteli (1886 – 1937). In Achmetelis Stücken zeigte sich, wie das neue georgische Theater durch die Synthese traditioneller georgischer und europäischer Kultur zu einem neuen künstlerischen Ausdruck fand. Für Kote Marjanischvili, der von Theatererneuerern wie Konstantin Stanislawski und Edward Gordon Craig beeinflusst war, "hat jede Epoche ihr eigenes Theater und ihre eigene Realität". Die beiden, so verschiedenen Regisseure formten auf dieser Grundlage eine neue Theatersprache. Sie bildeten professionelle Schauspieler aus, legten Wert auf das organische Zusammenspiel der künstlerischen Mittel, also auch von Kulissen, Kostümen und Musik. Es gab noch andere neben ihnen, aber niemand hat solche künstlerischen Höhen erreicht.

Das nach dem Theatererneuerer Kote Marjanischwili benannte Theater in Tblissi © Marjanischwili Theater

Neben den Granden des Welttheaters wie Shakespeare, Schiller, Gutzkow, Lope De Vega oder Percy Bysshe Shelley wurden damals auch georgische Dramatiker wie David Kldiashvili, Polikarpe Kakabadze, Avksenti Tsagareli, Shalva Dadiani aufgeführt. Doch schon bald wurde gegen Achmeteli, Marjanischwili und ihre Mitstreiter von Moskau aus der Vorwurf des "Nationalismus" erhoben. Das von Josef Stalin geführte Regime zerstörte bald darauf alles Eigenständige und Nationale in den Kulturen der einzelnen Sowjetrepubliken. Dieses Vorgehen war von Repression und der Ideologie des sozialistischen Realismus begleitet. Es führte dazu, dass die georgische Kultur ihre Identität verlor und Kunstwerke ebenso wie die Menschen zu einer geschichts- und gesichtslosen Masse wurden. Sandro Achmeteli wurde verhaftet, gefoltert und 1937 von sowjetischen Henkern erschossen. Marjanischwili, der von seinen eigenen Schauspielern aus seinem Theater vertrieben wurde, entkam den stalinistischen Repressionen nur deshalb, weil er bereits 1933 starb.

Eine große Ära ging in diesen Dreißigerjahren zu Ende. Erst nach Stalins Tod nahm in den 1950er Jahren das georgische Theater seine künstlerischen Suchbewegungen wieder auf, als das "Tauwetter" seines Nachfolgers Chruschtschow die Strenge der Zensur kurzzeitig etwas schmelzen ließ. Seit den 1950er Jahren standen mit Micheil Tumanischwili und seinen Schülern Robert Sturua und Temur Chkheidze drei Reformer an der Spitze des "Neuen Theaters" in Georgien. Wenig später schloss sich ihnen der Drehbuchautor, Film- und Theaterregisseur sowie Puppenspieler Rezo Gabriadze an, der 1981 dann das berühmte Marionettentheater in der Altstadt von Tiflis gründete, das seit seinem Tod 2021 von seinem Sohn Leo Gabriadze geleitet wird.

Der Regisseur, Theoretiker und Theaterlehrer Micheil Tumanischwili (1921-1996) war der erste, der das Theater von den Beschränkungen des sozialistischen Realismus und der sowjetischen Ideologie befreite. Nach dem Bruch mit dem Stalin-Kult (1956) lockerte sich der Druck der Zensur auf die georgische (und auch die sowjetische) Kunst und Micheil Tumanischwili gehörte zu denen, die dieser Entwicklung die bedeutendsten Früchte abgerungen haben. Er kam zum Theater, als ihn niemand erwartet hatte, und bot dem bedrängten, grauen, unglücklichen, hoffnungslosen Leben, den müden und gequälten Menschen im Theater eine neue, bisher ungekannte andere Wirklichkeit. Er brachte das vergessene Gefühl des Fests in das Theater zurück und zeigte, dass Georgien und seine Menschen nicht nur eine Gegenwart sondern auch eine Zukunft haben, dass es andere Perspektiven auf die Wirklichkeit gibt und viele Arten, über die Welt nachzudenken. Und dass eine andere Kunst möglich ist. So hat Tumanischwili eine neue Theatersprache etabliert, zuerst im Shota Rustaveli Theater. Als er das Rustaveli Theater auf Grund von Kämpfen verlassen musste, die Kollegen aus zwei Gruppen seiner einstigen Studenten angezettelt hatten, gründete er 1975 das "Traum"-Theater – Film Actors Theatre-Studio, das heute seinen Namen trägt.

 Das Marionettentheater von Rezo Gabriadze (dessen Turm von ihm selbst gestaltet wurde) in der Altstadt von Tblissi © Esther Slevogt

Pionierhaft gelang es den Schauspielern dieser Bühne, noch in der Sowjetära den "Eisernen Vorhang" zu durchbrechen und mit ihrer Arbeit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu erwecken, darunter auch die des genialen Peter Brook. Tumanischwilis berühmteste Inszenierungen "Don Juan", "Ein Sommernachtstraum", "Bakulas Schweine" und Unsere Stadt" gehören längst zum Klassikerkanon des georgischen Theaters. Zwei von ihnen werden bis heute gespielt: zwar in neuer Besetzung, aber noch immer mit dem alten Ruhm.

Das georgische Theater nach 1991

Die Gründung von unabhängigen Theatern begann erst nach 1991, im unabhängigen Georgien. Ihre Zahl nimmt stetig zu, und die hier arbeitenden Künstler dominieren aktiv die Theaterprozesse im Land. Mit ihnen wurde das georgische Theater im 21. Jahrhundert zu einer Arena für die Synthese spezifischer Regietechniken, schauspielerischer Fertigkeiten, Fähigkeiten, Körpersprache, Plastizität, Beherrschung und Darstellungsmethoden.

Das erste unabhängige Theater in Georgien war das Rustaveli Basement Theater – gegründet von Regisseuren, Bühnenbildnern und Theaterproduzenten wie Avto Varsimashvili, Levan Tsuladze, Gogi Margvelashvili, Otar Egadze, Shota Glurjidze, Gogi Kharabadze, Eka Mazmishvili. In den 1990er Jahren spielte es bei der Suche nach neuen künstlerischen Formen und der Ausbildung einer neuen Generation von Zuschauern eine bedeutende Rolle. In den Jahren darauf entstanden zahllose weitere unabhängige Theater: das Royal District Theatre, die Theater Factory 42; die Theater Liberty, Movement, Silk, Chamber, Town, Glass, Iron, Finger, The Wandering Moon, Atonely, Nikolo, das inklusive Azdak's Garden Theater, das OpenSpace | Visual and Performance Arts Centre; die Kompanien Haraki, Lizard, Gienos, Sakhioba ... die Liste ist lang.

Foyer des Vaso Abashidze Professional State New Theatre © Esther Slevogt

Unbedingt erwähnt werden müssen außerdem das älteste und das jüngste georgische Staatstheater: das Opern- und Balletttheater "Elderly" (von Ballettstar Nino Ananiashvili und Tenor Badri Maisuradze geleitet) und das Neue Theater Vaso Abashidze. Es gibt Pantomimen-, Schatten-, Puppen- und Jugendtheater; aserbaidschanische, armenische und russische Theater; zwei IDP-Theater, und zwar in Suchumi und Zchinwali. Und natürlich gibt es Theater nicht nur in Tblissi sondern auch in anderen georgischen Städten mit langer Geschichte: in Poti, Zestafon, Senaki, Zugdidi, Kutaisi, Achalziche, Telawi, Gori, Batumi, Chiaturi oder Ozurgeti.

In allen staatlichen und unabängigen/freien Theatern Georgiens werden "klassische", experimentelle, "traditionelle" und avantgardistische Aufführungen, Stücke georgischer und ausländischer (klassischer und moderner, anerkannter und "unbekannter") Dramatiker aufgeführt, zu verschiedenen Themen und Problemen, auf verschiedene Weise. Die Genres sind vielfältig und unterschiedlich. Immer gibt es darunter diejenigen, die die Geschichte bewahrt, und diejenigen, die bald wieder aus dem Gedächtnis verschwinden. Pro Spielzeit werden in den Theatern etwa drei bis fünf neue Stücke herausgebracht; insgesamt gibt es in Georgien pro Jahr etwa 380 bis 400 Vorstellungen mit einem geschätzten Publikum von 45.000 bis 50.000 Zuschauern. Die Theater engagieren sich uneigennützig für Vertriebene, sozial Schwache, Waisen, Kriegs- und Arbeitsveteranen, Soldaten. Unter den Weltklassikern "lieben" sie vor allem die Stücke von Shakespeare, insbesondere "Hamlet", "König Lear" und "Der Sturm"; sie lieben Brecht, Tschechow und Gogol, Molière und Schiller, Goethe und Pirandello, Eugene O'Neill, Tennessee Williams und Euripides, Ibsen sowie die Absurdisten und Existenzialisten. Sie bevorzugen jedoch nach wie vor georgische Klassiker und die Dramatiker der neuen Generation, die ebenso wie die Regisseure der neuen Generation eine neue Theatersprache sprechen.

Neben ihnen wurden neue Figuren aktiv, aus den Stücken von Amely Notomb, Ferdinand Bruckner, Martin McDonagh, Florian Zeller, Ingmar Villqist, Sarah Kane oder Ernst Brill. Sie erzählen von Menschen, denen die Zeit nichts anhaben kann, und von jenen, die ihren Kampf mit der Welt verloren haben, von jenen, die zwar alle Kriege verloren, aber trotzdem gewonnen haben, und von jenen, die, dem Schicksal unterworfen, alles verloren, als sie aufhörten, für die Moral zu kämpfen.

Die Figuren des georgischen Theaters sprechen über die jüngste Geschichte und die Gegenwart Georgiens, über die Probleme, die die Menschen gerade beunruhigen, und über die Schmerzen, die sie erleiden. Sie sprechen über Liebe und Hass, von Begegnungen und Trennungen, Kälte und Tod, Krieg und Frieden. Sie sprechen darüber, was passiert, wenn jemand seine Heimat, seine Hoffnung oder seinen Glauben verliert. Oder wie ein Wort alles zerstören kann.

Es sollte auch gesagt werden, dass das heutige georgische Theater kein einheitliches Bild ergibt, nicht durch einzelne Trends (samt ihrer Verzweigungen) gekennzeichnet ist. Es sieht eher aus wie ein abstraktes Gemälde oder ein Kaleidoskop, dessen Teile sich ständig bewegen, verändern, zu eigenständigen Kompositionen neu sich anordnen.

Lela Ochiauri Kritikerin und Professorin an der Staatlichen Theater- und Filmuniversität Shota Rustaveli: Lela Ochiauri © Privat

Jetzt wird Georgien beim Heidelberger Stückemarkt als Gastland präsentiert. Das Festivalprogramm zeigt Werke von Repräsentanten des zeitgenössischen georgischen Dramas, von Regisseuren und Dramatikern der neuen Generation: "Medea s01e06" von Paata Tsikolia, "Twins" des Philosophen und Dramatikers Giorgi Maisuradze, zwei Puppenspiele der Regisseurin Elene Matskhonashvili: "Niko Nikoladze" und "Sergo Paradjanov". Im Wettbewerb um den Internationalen Dramatikerpreis werden in szenischen Lesungen zeitgenössische Dramen vorgestellt: "Are they Knocking on Your Door too?" von Alex Chigvinadze, "The White Dog" von David Korbaladse und "Tercet" der Novizin Marita Liparteliani aus der Werkstatt von Temur Chkheidze, die derzeit von dem Regisseur und Dramatiker Data Tavadze und dem Dramatiker Davit Gabunia geleitet wird. Gabunia ist auch Kurator des georgischen Programms, das dem Publikum in Heidelberg nun das georgische Theater und auch Georgien ein wenig näher bringen wird.

Übersetzung aus dem Englischen: Esther Slevogt

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Lela Ochiauri ist promovierte Kunstwissenschaftlerin und Professorin an der Staatlichen Theater- und Filmuniversität Shota Rustaveli in Tblissi. Darüber hinaus arbeitet sie als Theater- und Filmkritikerin und leitet die Abteilung für Filmkritik und -theorie. Sie ist Autorin mehrerer Bücher und Dutzender wissenschaftlicher Artikel über Theater und Kino; Mitglied des Kritikerausschusses des Internationalen Theaterfestivals von Tblissi; Lela Ochiauri ist Mitglied des Internationalen Verbandes der Theaterkritiker.